Wir sind an einem Demokratie-Scheideweg

Neujahrsempfang von Kathrin Vogler (MdB, DIE LINKE) zusammen mit dem Kreisverband und der Fraktion DIE LINKE. Steinfurt,
9. Januar 2015
Rede von Petra Pau

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Ich danke für die Einladung und allen, die dennoch gekommen sind. Nun ist ein Neujahrsempfang keine Konferenz. Deshalb will ich keine klassische Rede reden, sondern einfach fünf Geschichten erzählen.

1. 

Die erste spielte vor rund elf Jahren, am 19. Dezember 2003. Es war ein Freitag, der letzte Sitzungstag des Bundestages im alten Jahr.
Alles, was noch auf Halde lag, musste raus.
 
Noch in der Nacht hatte die Vermittlungskommission von Bundestag und Bundesrat um Kompromisse gefeilscht. Früh, gegen 6 Uhr, erhielten alle MdBs das Ergebnis - über 600 Seiten Gesetzestext.
 
Um 9 Uhr begann die Plenardebatte, gegen 10:30 Uhr sollte abgestimmt werden. Gesine Lötzsch und ich, damals fraktionslos, widersprachen.
Die Abstimmung möge auf Montag verschoben werden.
 
Dafür erntete ich den Zwischenruf „Gottlose Type“. Der Kollege Ramsauer (CSU) fürchtete offenbar um sein besinnliches Weihnachtsfest. Alle Fraktionen waren für sofortige Abstimmung und stimmten zu.
 
Das Gesetz, das damals kein Abgeordneter wirklich gelesen haben konnte, wurde zur größten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Sozialgerichte.
Im Volksmund wird es „Hartz IV“ genannt.
 
Seither herrscht „Armut per Gesetz“. Arbeitslosigkeit gilt als Privatversagen und nicht mehr als gesellschaftliches Problem. Ich meine: Damit dürfen sich Linke auch zehn Jahre später nicht abfinden.

2. 

Die zweite Geschichte bekam gerade ein taufrisches Kapitel 2014 hinzu. Zwischen Weihnachten und Silvester ist nachrichtenarme Zeit. Da kommt man schneller in die Medien, dachte offenbar auch Yasmin Fahimi.
 
Man dürfe sich mit der sinkenden Wahlbeteiligung nicht abfinden, befand die Generalsekretärin der SPD und schlug als Ausweg Wahlwochen statt Wahltage sowie Wahlurnen auch auf Bahnhöfen und in Bibliotheken vor.
 
Sie kam in die Medien. Dort lief sie hoch und runter, mehr runter als hoch, und mit mehr Häme als Zuspruch. Aber nun kennt sie immerhin fast jeder.
Das wirkliche Problem ist allerdings ein anderes, finde ich.
 
Fahimi sieht das Ärgernis bei den Wählerinnen und Wählern und will ihnen deshalb formal entgegenkommen. Mit kürzeren Wegen und längeren Fristen, so als fänden diese des Sonntags ihr Wahllokal nicht.
 
Auf die Idee, dass das zunehmende Abstinenz-Problem bei der Politik liegen könnte, kommt sie offenbar nicht. Man sollte ihr das Buch von Roger Willemsen „Das hohe Haus“ schenken. Es erhellt und ernüchtert.
 
Ich habe natürlich auch meinen Senf dazu gegeben: „Bei Demokratie-Verdruss hilft nur mehr Demokratie, mehr direkte Demokratie, also Volksabstimmungen auch auf Bundesebene.“
 
Damit bin ich bei meiner eigentlichen Geschichte Numero 2.
Denn in Fragen direkter Demokratie ist die Bundesrepublik Deutschland noch immer ein EU-Entwicklungsland.
 
In den letzten 25 Jahren gab es drei große Chancen, dies zu ändern:
die erste 1989, die zweite 1992, die dritte 2004. Sie alle wurden ausgeschlagen, verlässlich durch die CDU/CSU, aber nicht nur durch sie.
 
1989 hatte der zentrale „Runde Tisch“ der DDR einen Verfassungsentwurf für die siechende DDR vorgelegt. Gedacht als Mitgift der Bürgerrechtsbewegung für das alsbald vereinte Deutschland.
 
Natürlich sah der Entwurf direkte Demokratie vor. Aber in ihm standen auch andere interessante Sätze, die heute aktueller denn je klingen:
 
zum Beispiel in Artikel 8:
„Jeder hat das Recht an seinen persönlichen Daten und auf Einsicht in ihn betreffende Akten und Dateien. Ohne freiwillige und ausdrückliche Zustimmung des Berechtigten dürfen persönliche Daten nicht erhoben, gespeichert, verwendet, verarbeitet oder weitergegeben werden.“
 
oder Artikel 43
„Die Staatsflagge (...) trägt die Farben schwarz-rot-gold. Das Wappen des Staates ist die Darstellung des Mottos „Schwerter zu Pflugscharen“.“
 
Datenschutz, Abrüstung, soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie - ein bürgerrechtliches Drängen, das Erinnerung verdient, meine ich.
Auch das befand Bundespräsident Joachim Gauck - leider nicht.
 
Und auch daran sei erinnert:
Die letzte und erste frei gewählte Volkskammer der DDR anno 1989 hatte diesen Verfassungsentwurf übrigens ignoriert.
 
Die Ost-CDU verweigerte sich, weil die West-CDU es so wollte. Bei der SPD war es ebenso. Das Erbe der viel gelobten Bürgerrechtsbewegung wurde schlicht ausgeschlagen. Es ist im neuen Deutschland nicht gefragt.
 
1991/92 gab es einen weiteren Versuch, mehr Demokratie auch auf Bundesebene einzuführen. Juristen, Bürgerrechtler und andere aus West und Ost fanden als „Pauls-Kirchen-Bewegung“ zueinander.
 
Das war eine Anspielung auf die 1848er Revolution. Heraus kam der Entwurf einer Verfassung für das geeinte Deutschland. Sie sollte per Volksabstimmung angenommen werden und das Grundgesetz ersetzen.
 
Auch dieser Vorstoß scheiterte, diesmal am Bundestag, wieder verlässlich an der CDU/CSU, ebenso an der SPD. Mehr Demokratie war erneut nicht erwünscht, die Parteien genügten sich weiterhin selbst.
 
Die dritte Chance, 2004, hatte etwas mit der EU-Verfassung zu tun, die damals zur Annahme stand. In vielen EU-Staaten um Deutschland herum hieß das Volksabstimmung - nicht hierzulande.
 
Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) behauptete damals forsch, das Grundgesetz verbiete Volksabstimmungen. Und Josef Fischer (Grüne) tönte, er lasse sich seine EU-Verfassung nicht vom Volk zerreden.
 
Glaubt wirklich jemand, solche und weitere Botschaften lassen sich durch Wahlurnen auf Bahnhöfen und in Bibliotheken tilgen? Nein! Die Politik muss zu den Bürgerinnen und Bürger kommen, nicht andersherum.

3. 

Nun ließe sich meine erste Geschichte, „Hartz IV“ am 19. Dezember 2003, und meine zweite Geschichte „Parteien gegen mehr Demokratie“ noch gutwillig unter schlechter Kultur oder Arroganz abbuchen, also als heilbar.
 
Meine dritte Geschichte geht weiter. Denn aktuell gibt es drei Entwicklungen, die für jedwede Demokratie tödlich sind oder werden können, wenn sie nicht grundsätzlich zurück gedrängt werden:
 
•  die Übermacht von Banken und Börsen über die Politik und damit über die Demokratie;
 
•  die weltweite Überwachung von allen und allem durch die NSA und weitere Geheimdienste;
 
•  die drohende Kapitulation der Politik vor Kapital-Interessen durch TTIP und weiterer „Freihandelsabkommen“.
 
Wir sind politisch allesamt an einem Scheideweg. DIE LINKE, aber nicht nur sie, muss sich als Partei für Bürgerrechte und Demokratie erweisen. Das ist mehr, als der Kampf gegen „Hartz IV“ oder für Mindestlöhne.
 
Die Demokratie, so unvollständig sie ist, muss verteidigt, wieder belebt und zu wirklicher Mitbestimmung erweitert werden. Das bleibt eine Herkules-Aufgabe für alle Demokraten 2015 und weiterhin.

4. 

Meine vierte Geschichte führte mich nach Baden-Württemberg.
Die Landeszentrale für politische Bildung hatte mich als Referentin für eine Veranstaltungsreihe angefragt.
 
Es ging um fünf oder sechs Abende in der Uni Freiburg. Alle unter der Dach-Überschrift „25 Jahre Mauerfall - die deutsche Einheit eine Erfolgs-Geschichte“. Erfolg mal mit, mal ohne Fragezeichen geschrieben.
 
Gesprächspartner an den anderen Abenden waren Hubertus Knabe (Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen), Marianne Birthler (ehemals Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde) und so weiter.
 
Meine erste Reaktion war ein klares Nein! Was sollte ich da? Dann wurde ich damit geworben, dass ich das Thema meines Abends frei wählen könne. Ich sagte zu und gab als Thema „Links im 21. Jahrhundert“ vor.
 
Ich fühlte mich inhaltlich gut vorbereitet und doch fuhr ich mit sehr gemischten Gefühlen dorthin. Wer sollte sich dafür interessieren? Und was wollen jene, die kommen, wenn sie kommen?
 
Die Presse vermeldete hernach 200 Leute im Hörsaal. Aus meiner Sicht viele Studentinnen und Studenten, aber quer durch alle Generationen auch viele, die als ehrwürdige Linke einen neuen Sinn suchen.
 
Nach meinem Vortrag diskutierten wir ausgiebig. Nicht über Gauck oder Biermann, nicht über Mauern oder Drachen - das interessierte keinen - sondern ausschließlich über eine neue Linke in einer rasanten Welt.
 
Keine Angst: Ich wiederhole hier nicht, was ich in Freiburg geredet habe. Das ist nachlesbar. Außer: Mit einer Linken aus dem 20. Jahrhundert lässt sich im 21. Jahrhundert kein Blumentopf gewinnen.
 
Wir haben viel zu verteidigen, allemal, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht. Das schaffen wir zuweilen ganz gut. Aber wir sind noch blass, wenn es um Zukunftsoptionen geht. Das müssen wir gemeinsam ändern.
 
Und meine Kurzthesen bei alledem heißen: Rote im 21. Jahrhundert müssen zugleich grün und Piraten sein. Zudem: Linke müssen weniger Sagende, denn Fragende sein, mehr Recht suchen, denn haben wollen.
 
Sie merken, ihr merkt: Das ist auch ein Plädoyer für mehr politische Kultur. Da orientiere ich mich gern auch an dem Schriftsteller und zeitlebens kritischen Sozialisten Stefan Heym (Zitat):
 
„Toleranz und Achtung gegenüber jedem einzelnen und Widerspruch und Vielfalt der Meinungen sind vonnöten. Eine politische Kultur mit der unser Land, das geeinte, seine besten Traditionen einbringen kann in ein geeintes freies friedliches Europa.“
 
Stefan Heym hielt diese Rede 1994 als Alterspräsident im Deutschen Bundestag. Der einst west-gefeierte DDR-Dissident wurde dafür insbesondere von der CDU/CSU mit Eiseskälte bedacht.
 
Deshalb zitiere ich noch zwei Sätze aus seiner Rede. Man kann sie heute mit Blick auf Griechenland lesen oder auf Dresden oder nach Brüssel. Sie sind so aktuell, wie vor 20 Jahren. Stefan Heym drängte damals:
 
„Reden wir nicht nur von der Entschuldung der Ärmsten. Entschulden wir sie. Und nicht die Flüchtlinge, die zu uns drängen, sind unsere Feinde, sondern die, die sie in die Flucht treiben.“
 
Und deshalb noch ein aktueller Rat. Die Linke, klein oder groß geschrieben, braucht viele Verbündete, je mehr, desto besser. Aber bitte nicht die falschen, auch nicht des vermeintlich lieben Friedens willen.

5. 

Meine fünfte und letzte Geschichte für heute ist die kürzeste.
 
„Gottlose Type“ war das Merkwort aus meiner ersten Episode.
„Gottlose Type“ wird auch mein Buch heißen, das vom Eulenspiegel-Verlag herausgegeben und im Februar erscheinen wird.
 
Daher mein Schlusssatz: Ich wünsche Ihnen, meinem Verlag und uns allen ein erfolgreiches 2015 - persönlich und politisch. Danke!
 

 

 

9.1.2015
www.petra-pau.de

 

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