Nehmen wir jede Blume als ein besorgtes Fragezeichen

Erinnerung Sinti & Roma, Berlin-Marzahn, 10. 06. 2012
Rede von Petra Pau

1. 

Sie wissen es vielleicht: Ich bin für DIE LINKE Mitglied im Untersuchungsausschuss des Bundestages zur NSU-Nazi-Mordserie.
 
Fest steht: Eine Nazi-Bande war jahrelang mordend und raubend in Deutschland unterwegs, unerkannt und unbehelligt.
 
Ich will die unglaubliche und noch immer unvollständige Geschichte hier nicht erzählen. Mir geht es an diesem Ort um etwas andere.

2. 

Hunderte Beamte verschiedener Sicherheitsbehörden im Bund und aus den Ländern ermittelten - fast nie in Richtung Rechtsextremismus.
 
Bei den acht türkischen Opfern und dem ermordeten Griechen wurde milieu-bedingte organisierte Kriminalität unterstellt.
 
Tatverdächtig waren folglich die Hinterbliebenen und im weitesten Sinne Angehörige der Opfer, familiäre, wirtschaftliche, politische. Türken halt!
 
Das zehnte Opfer war eine Polizistin. Sie wurde in Heilbronn umgebracht. Auch hier wurde europa-weit einer unterstellten Spur nachgegangen.
 
Man suchte eifrig nach Sinti und Roma, die den Mord begangen haben könnten. Man hatte alle in Verdacht - nur deutsche Neo-Nazis (fast) nie.

3. 

Ich fälle hier kein (nahe liegendes) Urteil über deutsche Behörden. Wir untersuchen noch. Aber das etwas nicht stimmt, liegt auf der Hand.
 
Das meine ich auch mit Blick auf danach: Es gibt keinen Aufstand der Anständigen. Kurze mediale Empörung: Ja! Mehr nicht! Totenstille!
 
Türkische Verbände und Organisationen der Sinti & Roma mahnen. Sie bleiben damit weitgehend unter sich. Kaum gesellschaftliche Resonanz.

4. 

Wird hingenommen, was nicht hinnehmbar ist? Ich finde, egal ob Bibel oder Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aller!
 
Die Reichshauptstadt wollte 1936 zu den Olympischen Spielen glänzen. Deshalb wurden „Zigeuner“ hierher deportiert und später vergast.
 
„Sauber und rein“ aus germanisch-rassistischen Gründen. Es war dasselbe Motiv, wie aktuell bei der NSU-Nazi-Mord-Bande.
 
Doch woher kommt die aktuelle Gleichgültigkeit? Wo das hinführen kann, wissen wir. Deshalb mahnen wir ja heute hier: „Nie wieder!“

5. 

Eine mögliche Antwort gibt die Langzeit-Studie des Wissenschafts-Teams um Prof. Heitmeyer (Uni Bielefeld) über „Deutsche Zustände“.
 
Der Befund nach zehn Jahren Forschung: Die „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ nimmt spürbar zu. Er schlägt Alarm.
 
Und er nennt drei Befunde: Das Soziale wird ökonomisiert. Die Demokratie wird entleert. Die Solidarität schwindet.

6. 

Wir treffen uns hier seit Jahren aus einem konkreten historischen Anlass. Das muss sein und das muss bleiben. Wir müssen erinnern.
 
Aber es geht nicht um Geschichte, jedenfalls nicht nur. Wir haben eine welterschütternde Finanzkrise. Und prompt sind die Juden schuld.
 
Wir haben eine Krise der Demokratie. Weil Griechen faul sind, höhnt BILD. Eine Polizistin wurde ermordet. Gesucht werden Zigeuner...
 
Es ist etwas faul im Staate Deutschland, oberfaul. Und in Europa. Reden wir also nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über die Zukunft.
 
Wir werden Blumen niederlegen. Nehmen wir jede als ein besorgtes Fragezeichen. Und suchen wir gemeinsam nach besseren Antworten.
 

 

 

10.6.2012
www.petra-pau.de

 

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