Brauchen wir mehr Demokratie?

Antwort von Petra Pau auf einen Leserbrief
Der Tagesspiegel, 31. Oktober 2010

„Ihr da oben – wir da unten“ von Harald Martenstein vom 23. Oktober

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte gern Stellung nehmen zu dem Artikel von Harald Martenstein. Das begleitende Bild der leeren Stühle im Bundestag scheint mir die Stimmung des Autors treffend wiederzugeben. Also die ganze Parteiendemokratie ist Murks. Die Abgeordneten verdienen einen Haufen Geld, können sich einer sehr guten Altersversorgung erfreuen und gehen nur zu Sitzungen, wenn sie selbst oder einer ihrer Parteikollegen eine Rede halten. Ihre wahre Regierungsarbeit findet nicht im Parlament, sondern bei Essens- oder anderen Einladungen statt, so glaubt das nicht informierte Wahlvolk – mich eingeschlossen. Bei den Alternativen hält sich der Autor eher zurück. Da bietet sich eine Straßen- oder Demonstrationsdemokratie (eine Art APO hatten wir ja schon mal) an oder so etwas, was in der Schweiz praktiziert wird. Auch eine Monarchie und eine Diktatur hatten wir schon. Könnte es vielleicht sein, dass die so gescholtene Parteiendemokratie einfach das kleinste Übel ist?

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Hans Meyer, Ehrenfelsstr. 31, 10318 Berlin

Sehr geehrter Dr. Hans Meyer,

„Stuttgart 21“ hat sein Gutes und das verdanken wir den Schwaben, ausgerechnet. Damit meine ich nicht das Großprojekt der Bahn AG. Das kann man so oder so beurteilen. Es geht um den Umgang der Politik mit anders denkenden Bürgerinnen und Bürgern. Die protestieren seit Monaten gegen ein Vorhaben, das sie für grundfalsch halten und letztlich doch bezahlen sollen. Nicht irgendwelche vermeintlich Radikale demonstrieren dort, sondern ganz normale Bürgerinnen und Bürger, Schüler, Apotheker, Schauspieler, Arbeiter, Omas, querbeet durch die Gesellschaft. Das ist selten. Sie tun es ungebrochen, trotz massivem Polizeieinsatz gegen sie. Und es werden immer mehr. Das ist neu. Sie stellen mit dem Bahnhofs-Projekt zugleich die Autorität und die vermeintliche Alternativlosigkeit der Politik infrage. Sie begehren auf und wollen mitbestimmen. Sie fordern mehr Demokratie.

Und wie reagierte die Politik? „Wenn das Schule macht, dann verliert Deutschland seine Zukunftsfähigkeit“, meinte darob die CDU/CSU im Bundestag. Was ist das für eine Gegenüberstellung: Demokratie oder Zukunft? Erhard Eppler, der Mentor der SPD, warnt vor einer anderen Alternative: „Wer jetzt nicht mehr Demokratie wagt, wird sehr viel mehr Polizei brauchen.“ Die repräsentative Demokratie kriselt seit langem. Dafür gibt es objektive und subjektive Gründe. Aber unübersehbar ist: Die größte aller Parteien ist schon lange nicht mehr die Union, auch nicht die SPD, und, um eine aktuelle Stimmung aufzugreifen, auch Die Grünen sind es nicht. Die meisten Bürgerinnen und Bürger finden sich in der „Partei der Nichtwähler“ wieder. Sie fühlen sich nicht mehr verstanden und nicht mehr vertreten. Die Folgen sind – in dieser Reihenfolge – Parteienverdruss, Politikverdruss, Demokratieverdruss. Das ist gefährlich. Demokratieverdruss ist ein Einfallstor für rechtsextreme Kameraden mit ihren menschenverachtenden Parolen. Aktuelle Beispiele dafür gibt es in Europa viele, zu viele. Meine Frage ist daher auch nicht, ob „die so gescholtene Parteiendemokratie einfach das kleinste Übel ist“. Mich erregt, dass Parteien und Parlamente derzeit das Ihre dazu beitragen, sich selbst und die Demokratie infrage zu stellen. Das ist ein großes Übel.

Meine These ist seit langem: Gegen Demokratieverdruss hilft nur mehr Demokratie, mehr direkte Demokratie, also Volksabstimmungen auch auf Bundesebene. Es reicht nicht, dass Bürgerinnen und Bürger alle vier, fünf Jahre Parteien ihrer Wahl ankreuzen können oder es lassen. Sie sind laut Grundgesetz die Souveräne. Sie, nicht die Abgeordneten in den Parlamenten. Und schon gar nicht Lobbyisten, die versuchen, Regierungen für ihre Interessen zu kaufen. Im Artikel 20 Grundgesetz heißt es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen (...) ausgeübt.“ Es gab sicher gute Gründe, die „Abstimmungen“ auf Eis zu legen, damals, 1949, nur vier Jahre nach der Befreiung vom Faschismus. Aber inzwischen sind wir im 21. Jahrhundert. Und noch immer ist die Bundesrepublik Deutschland in Fragen direkter Demokratie ein EU-Entwicklungsland. Volksabstimmungen bedeuten übrigens nicht, dass sich das Gute und Wahre Bahn bricht. Sie sind keine Moralinstanz, sondern ein Demokratie-Prinzip, diesseits von Anarchie oder Diktatur. Deshalb noch einmal zurück zum Streit um „Stuttgart 21“: Seit voriger Woche wird geschlichtet. Was an sich schon viel sagt: Die Regierenden brauchen inzwischen einen „Mediator“, um überhaupt noch mit Regierten sprechen zu können. Der „Vermittler“ wiederum, also Heiner Geißler, mahnte immer wieder, die Kontrahenten sollen zur Sache reden und in einer Sprache, die das Volk auch versteht. Was für ein Kultur- und Demokratie-Anspruch! Jenseits vieler TV-Talkshows und Bundestagsdebatten! Die „Schlichtung“ wurde im Fernsehen live übertragen. Ich hoffe sehr: Die so praktizierte Transparenz möge auch der „repräsentativen“ Demokratie manch elitäre Arroganz austreiben.

— Petra Pau, Abgeordnete der Linkspartei,
ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags.

 

 

31.10.2010
www.petra-pau.de

 

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