Märchen aus dem Hause Schäuble

Über Präventivgedanken, grundgesetzfreie Zonen und den Datenschutz im Schlachthof

Beitrag von Petra Pau in „Disput“, August 2007

Als es darum ging, deutsche Tornados in den Süden Afghanistans zu schicken, da erklärte die Bundesregierung: Die deutschen Tornados sind einzigartig und daher unverzichtbar. Sie können aus höchster, für Taliban und andere Terroristen unerreichbarer Höhe exakte Bilder von allem liefern, was auf der Erde kreucht und fleucht. So viel deutsche Wertarbeit beeindruckte so manche Skeptiker. Sie stimmten dem Einsatz zu.

Teil 2: Wochen später flogen Tornados über Heiligendamm. Dort tagte der G8-Gipfel, und drum herum demonstrierten Globalisierungskritiker. Ein Tornado raste über ihr Camp, im Tiefflug, tiefer als erlaubt. „Er musste so tief fliegen“, erklärte die Bundesregierung, denn das Wetter war schlecht. „Und an wen gingen die Aufnahmen, die gemacht wurden, und wer ist darauf zu sehen?“, wollten wir im Innenausschuss wissen.„Niemand ist zu sehen“, wurde uns beschieden, denn die Auflösung der Fotos sei so schlecht, dass man darauf bestenfalls Hügel oder Straßen erkennen könne, aber keine Personen. Hinter mir saß ein SPD-Abgeordneter. Er hatte dem Afghanistan-Einsatz zugestimmt. Nun gab er vernehmbar zu Protokoll: „Das verstehe ich jetzt nicht.“

Das war das kleine Märchen zum Aufwärmen. Nun das größere. Rund um den G8-Gipfel waren nicht nur Tornados, sondern auch rund 3.000 Soldaten mit Gerät unterwegs, unter anderem Panzerspähwagen. Was sollten die dort, und durften die es überhaupt? „Selbstverständlich“, erklärte uns die Bundesregierung vor und nach dem Einsatz, und sie verwies auf Artikel 35 Grundgesetz. Der regelt in der Tat, unter welchen Umständen die Bundeswehr im Inneren eingesetzt werden darf: Nämlich zur dringenden Hilfe bei großen Naturkatastrophen oder bei einem besonders schweren Unglücksfall. Nun wissen wir immerhin, was der G8-Gipfel aus Sicht der Bundesregierung war. Die Fraktion DIE LINKE hatte Tage nach dem G8-Gipfel Demo-Teilnehmer, kritische Anwälte, Bürgerrechtler und Journalisten zu einer Anhörung eingeladen. Ihre Erlebnisse und Schilderungen mündeten in dem Schluss: Rund um Heiligendamm wurde eine grundgesetzfreie Zone geschaffen, wobei der Einsatz der Bundeswehr vor allem ein Gewöhnungsrecht schaffen sollte, um sie auch künftig unwidersprochen im Innern einsetzen zu können.

Nun kommt das große Märchen, diesmal zum Gruseln. Man müsse, meinte Bundesinnenminister Schäuble im „Spiegel“, den Präventivgedanken im Grundgesetz stärken. Das sei unverzichtbar, angesichts der neuen und neuartigen Bedrohungen, insbesondere durch den internationalen Terrorismus. Nur so, sagt Schäuble, lasse sich Sicherheit gewährleisten, nicht vollends, aber bestmöglich. Wer wollte ihm bei so viel Fürsorge nicht vorsorglich zustimmen? Wäre da nicht ein klitzekleiner Pferdefuß. Das Grundgesetz kennt fürwahr einen Präventivgedanken. Er findet sich in den Artikeln 1 bis 19 wieder. Und die sollen sichern, dass die Bürgerinnen und Bürger souverän bleiben können und vor gegensätzlichen Begehrlichkeiten, insbesondere des Staates, geschützt werden. Doch genau gegen diese Grundlagen läuft Wolfgang Schäuble Amok. Wie vordem Innenminister Schily, nur cleverer.

Schäuble ist ein hervorragender Populist im schlechten Sinne. Er lässt seine Kritiker mit einem simplen Trick ins Leere laufen. Er versucht es zumindest. Otto Schily polterte empört, wenn man ihm vorwarf, er verstoße gegen das Grundgesetz. Er tat es natürlich trotzdem und konnte mehrfach erst vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gestoppt werden. Wolfgang Schäuble ficht so ein Vorwurf nicht an. Er meint freundlich, aber bestimmt, das Grundgesetz sei ohnehin nicht mehr zeitgemäß. Wir haben also einen Innenminister, der auf das Grundgesetz geschworen hat und zugleich sagt, das Grundgesetz ist Altpapier. Das ist neu, das ist gefährlich, das ist verfassungsfeindlich. Allemal, wenn Bundeskanzlerin Merkel diese Attacken zu simplen Gedankenspielen herunterspielt.

Aber das ist nur die formale Kritik. Die sachliche geht weiter und tiefer. Wir erleben den Versuch, die Bundesrepublik Deutschland neu zu verfassen. Nicht, dass die alte untadelig und super gewesen wäre. Aber seit einigen Jahren wird ein grundlegender Systemwechsel angestrebt, weg vom demokratischen Rechtsstaat, hin zum präventiven Sicherheitsstaat. Noch halten die Dämme, und als Deichgrafen agieren derzeit die Sozialdemokraten. Aber knicken sie ein, dann gibt es kein Halten mehr. Denn die Große Koalition hat im Bundestag eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit. Das ist die Chance, die Schäuble & Co. wittern, und das ist die Gefahr, die der Gesellschaft droht.

Zwei Beispiele nur zur Illustration: Der Datenschutz wurde im Schlachthof abgegeben. Wer arm dran ist und unter „Hartz IV“ fällt, muss über 150 persönliche Daten über sich und sein Umfeld preisgeben. In die USA darf nur fliegen, wer über 30 Daten hinterlegt, die dann 15 Jahre lang gespeichert werden und dort unkontrolliert vagabundieren. Eine hoch gelobte Anti-Terror-Datei in Deutschland sichert, dass alles, was wo und warum auch immer über Bürgerinnen und Bürger staatlich erfasst wurde, mit Sicherheit bei den Geheimdiensten landet. Wer telefoniert, ­ E-Mails verschickt oder im Internet surft, wird registriert und gespeichert. Und geht es nach den Sicherheitsfanatikern, dann können demnächst Computer durchforstet werden, online dank Bundes-Trojaner, ohne dass die Betroffenen es merken. „Big Brother“ hat inzwischen noch viel mehr technische Möglichkeiten, alles zu wissen und dadurch alle zu beherrschen.

Der Datenschutz ist aber mitnichten Täterschutz, wie zuweilen suggeriert wird. Er ist auch keine individuelle Spielwiese, frei nach dem Motto: „Ich habe ja nichts zu verbergen!“ Datenschutz ist eine unverzichtbare Voraussetzung für Demokratie. So urteilte das Bundesverfassungsgericht 1983, und das, wie ich finde, durchaus nachvollziehbar. Damals wollte die alte Bundesrepublik ihr Volk mit Hausbesuchen, Fragebögen und Bleistiften zählen. Doch allzu viele wollten das nicht. Sie zogen vor Gericht, und das Bundesverfassungsgericht urteilte zu ihren Gunsten. Kurzgefasst: „Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr wissen oder wissen können, wer was über sie weiß, sind nicht mehr souverän. Wer nicht mehr souverän ist, kann kein Souverän sein. Eine Demokratie ohne Souveräne aber ist unvorstellbar!“

Die allgegenwärtige Daten-Sammelwut unterhöhlt also die Demokratie. Und das Bundesverfassungsgericht hat genau diesen Gedanken jüngst nochmals bekräftigt. Und zugleich geht der Rechtsstaat flöten, zumindest wird er in Frage gestellt. Der Rechtsstaat ist kein Himmelreich der Gerechten. Aber er basiert auf Prinzipien, die über Jahrhunderte erkämpft wurden. Die Unschuldsvermutung ist so ein Grundsatz. Niemand darf auf Grund eines bloßen Verdachtes oder gar einer puren Verleumdung seiner Bürger- und Menschenrechte be­raubt werden. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht absichtsvoll an der Spitze des Grundgesetzes. Im Internierungs- und Folterlager der USA in Guantanamo wird das Gegenteil praktiziert. Bundesinnenminister Schäuble findet zwar Folter abscheulich, Foltergeständnisse indes könnten wichtig sein, meint er.

Man müsse wissen, was Terroristen vorhaben, am besten bevor sie ihr Vorhaben vorhaben. Das ist die Philosophie, die als neue Sicherheit verkauft wird. Also Prävention, also Schuldvermutung, also Überwachung. Das hatten wir übrigens schon mal, nur nicht so technisch perfekt. „Wir müssen möglichst alles über alle wissen“, hieß die Sicherheitsdoktrin zu DDR-Zeiten. „Wir müssen den Angreifern zuvorkommen, bevor sie auf dumme Gedanken kommen“, fordern die bundesdeutschen Sicherheitsbehörden. Also wird zunehmend überwacht: im Internet, in der Moschee, auf Bahnhöfen, auf Plätzen, in Wohnungen und im links-alternativen Milieu. Welche Angreifer werden observiert? Alle, alle möglichen und alle unmöglichen! Überwachung ist Sicherheit, und Sicherheit ist Freiheit. Das wird als neues Denken suggeriert. Wieder eine Lüge. Und wieder eine wider die Verfassung.

Vor Jahresfrist hatte ich die Bundesregierung gefragt, wie viele Datensätze die verschiedenen Sicherheitsbehörden inzwischen über Bürgerinnen und Bürger gespeichert hätten. Die Antwort: Es gibt 160 verschiedene Dateien, die dem Kampf gegen den Terrorismus bzw. der Kriminalität gewidmet sind. In ihnen sind 60 Millionen Datensätze über Personen oder Gruppen gespeichert.
 

Petra Pau ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Mitglied seines Innenausschusses

 

 

31.8.2007
www.petra-pau.de

 

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