„Ohne Solidarität keine menschliche Gesellschaft“

Mut und Trug zwischen Wittstock und Magdeburg

Beitrag von Petra Pau in „Disput“, Oktober 2003

Er war in allen Ecken und Nischen des Bundestages zu spüren - der Druck, der auf die „Abweichler“ der SPD, die Bundeskanzler Schröder und seiner Agenda 2010 so nicht folgen wollten. Eminenz hatten zum x-ten Mal ihro politische Zukunft an eine „Reform“ gekettet und die bedingungslose Gefolgschaft der Seinen gefordert. Ein Gruselspiel, das Altmeister Shakespeare nicht besser hätte schreiben können. Ich gestehe meine Achtung vor Leuten, wie Ottmar Schreiner, die das Soziale im Namen der SPD noch immer hoch halten wollen.

Noch trefflicher kam es in der vorerst letzten Sendung der Kult-Sendung „Scheibenwischer“ auf den Punkt. „Die Abweichler sind feige“, wurde SPD-Fraktionschef Müntefering zitiert. „Welch unglaublichen Mut!“, fand ein Kabarettist, haben dagegen die 300 Ja-Sager bewiesen: „Mut, Mut, Mut?“

Hinter den Macht-Kabalen verschwinden allerdings schnell die Inhalte. Ich gehöre nicht zu jenen, die „Hartz“ aus Prinzip verteufeln oder „Rürup“ a priori ablehnen. Es gibt Probleme, die sind einfach da, und sie harren einer politischen Antwort. Die Sicherung der sozialen Systeme gehört dazu, auch das viel zitierte demographische Problem. „Wir sind unterjüngt“, sagte neulich eine so genannte Expertin im Fernsehen. Unterjüngt? Sie meinte: Es gibt hierzulande immer mehr Menschen im Rentenalter und immer weniger im Berufsleben. Das ist so, und darauf muss auch die PDS antworten - rechtzeitig und vernehmbar - im Bundestag und im Alltag: grundsätzlich und konkret.

Wir haben am 17. Oktober - selbstverständlich - gegen „Hartz“ III und IV gestimmt, und ich habe dagegen gesprochen. In fünf Minuten, länger dürfen wir nicht, weil wir keine Fraktion sind. Dabei geht es um nicht weniger, als um den Abschied vom Sozialstaat. „Es wird nicht weniger Arbeitslose geben, sondern mehr arme Arbeitslose!“ Das war meine zentrale Kritik am „Hartz“-Paket, allemal im Osten, aber nicht nur dort. Alle so genannten Reformen, die derzeit SPD- oder CDU-verhandelt werden, zielen auf die Opfer derselben. Wer arm dran ist, hat Schuld und muss dafür zahlen. Das Gegenteil heißt Solidarität und dazu steht im noch gültigen Programm der SPD: „Ohne Solidarität gibt es keine menschliche Gesellschaft.“ Übrigens: Wer das Berliner Grundsatz-Programm von 1989 lesen will, muss lange suchen. Im Internet-Angebot des SPD-Vorstandes ist es verschwunden worden. Es passt wohl nicht mehr zum Abschied vom „Demokratischen Sozialismus“, den SPD-Generalsekretär Scholz verkündet hat.

Bomben-Stop

Immerhin: Einen Erfolg brachten die zurückliegenden Wochen. Das Bombodrom bei Wittstock darf nicht, wie von Bundesverteidigungsminister Struck verfügt, betrieben werden. Das wurde gerichtlich entschieden, vorerst. Der Protest gegen den drohenden Bombenabwurfplatz geht über ein Jahrzehnt. Die PDS war stets dabei. Vor Ort, auf Landes- und Bundesebene.

Am 6. Oktober fuhr ich erneut in die Kyritz-Ruppiner Heide. Umweltminister Wolfgang Methling (Mecklenburg-Vorpommern) war dabei, natürlich auch Wolfgang Gehrke (PDS-Vorstand). Wir berieten mit Bürgerinitiativen und Wirtschaftsvertretern, was weiter zu tun sei, um die einstweilige Verfügung gegen das Bombodrom in ein dauerhaftes Verbot zu wandeln.

Im gemeinsamen Kontra bündeln sich verschiedene Pro. Die einen wollen die Umwelt bewahren. Sie zählt zum Plus der Region. Andere streiten für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Der Tourismus gehört unbedingt dazu. Schließlich geht es um eine friedliche Zukunft. Bombenabwurfplätze und Bundeswehrwelteinsätze sind da fehl am Platz.

Gleichwohl steht im Bundestag die nächste Kriegs-Abstimmung an. Das Afghanistan-Mandat soll ausgeweitet werden, personell und über Kabul hinaus. Eine erste Debatte dazu fand im September en passant statt. Tags darauf sprach mich Bundesverteidigungsminister Struck an. „:Sie haben mich des Verfassungsbruchs beschuldigt, Frau Pau?“, fragte er. „Stimmt“, sagte ich, „denn Sie haben Erkundungstrupps der Bundeswehr nach Kundus befohlen, ohne Zustimmung des Bundestages, und das ist wider das Grundgesetz.“ - „Ich hatte vorher den Fraktionsvorsitzenden geschrieben“, versuchte Struck eine Ausflucht. „Wer sind die Fraktionsvorsitzenden?“, fragte ich zurück, ich sei Abgeordnete und poche auf meine Rechte. „Ich kann doch nicht jedem schreiben“, meinte der SPD-Minister. „Brauchen Sie auch nicht“, gab ich zurück, „aber Sie verstoßen gegen parlamentarische Mindeststandards, und das lasse ich nicht durchgehen.“ Damit war das Pausengespräch - erst mal - beendet.

Dank zurück

Im Berliner „Tagesspiegel“ kann man neuerdings sonntags erfahren, was Bundestagsabgeordnete so treiben. Der Kalender einer Woche wird veröffentlich, und es wird gefragt: „Was war Ihr interessantester Termin?“ Am 5. Oktober war ich dran. In sieben Tagen kommt manches zusammen: Gespräche, Debatten, Besuche, Beratungen, ein Fernsehtermin, ein Umweltfest, eine Stadtteil-Konferenz, eine Wahlkampfveranstaltung, sogar zu einer Opernpremiere hatte ich es geschafft. Als „besonders“ empfand ich etwas anderes und schrieb daher im Tagesspiegel: „Mein Termin der Woche war am 25. September, ab 9:00 Uhr. Besuche von Schulklassen gehören zum parlamentarischen Alltag. Sie kommen aus allen Himmelsrichtungen der Bundesrepublik, besichtigen den Reichstag, wollen das eine oder andere wissen und entschwinden wieder in die spannende Großstadt. Diesmal hatten sich 35 Jugendliche vom Bernstein-Gymnasium in Marzahn-Hellersdorf angemeldet. Sie waren neugierig, und als sie gegen 14 Uhr gingen, hatten wir viel mehr Zeit miteinander verbracht, als verabredet. Selbst als ich ins Plenum musste, um an Debatten über den Irak oder die Ausbildungslage teilzunehmen, wollten sie dabei sein, wenigstens am Fernseher. Sie hätten mich verstanden, sagten sie nach meinen Reden. So ein Lob, von Jugendlichen, wiegt doppelt.

Sehr schnell entlarvten sie auch die Macken des Bundestag-Betriebes. Sie wollten nicht verstehen, wie man über 300 Seiten dicke Anträge sachkundig entscheiden könne, die den Abgeordneten erst 48 Stunden vorher zugestellt wurden. Und sie werden künftig sehr hellhörig sein, meinten sie, wenn der Kanzler zur Eile dränge. Sie fanden es auch ›undemokratisch‹, Parlamentarier auf Fraktions-Kurs zu trimmen, gegen deren Willen. Und sie staunten, dass sich Abgeordnete konkurrierender Parteien außerhalb des Plenarsaales wie richtige Menschen begrüßen, während sich dieselben Politiker vor laufenden Kameras wie Kampfhunde balgen.

Das alles wurde ihnen live geboten. Besser, sie wollten es sehen, hören, wissen. Und das war das Spannende an dem Besuch aus meinem Wahlkreis. Die Jugendlichen waren mitnichten politikverdrossen. Kurz danach bekam ich eine E-mail. ›Ich danken Ihnen, Frau Pau, dass Sie sich für uns soviel Zeit genommen haben.‹ Dank zurück.“

Schul-Streit

Post bekam ich auch aus Leipzig. PDS-Mitglieder hatten einen offenen Brief verfasst, Unterschriften gesammelt und ihr Werk im ND veröffentlichen lassen. Anlass war eine Presseerklärung, die ich zum „Kopftuchstreit“ verbreitet hatte, es war die zweite zum Thema. In der ersten hatte ich geschrieben: „Auslöser des Rechtsstreites war eine Klage einer deutschen Lehrerin, die in Baden-Württemberg nicht unterrichten darf, weil sie ein Kopftuch trage, das sie als Muslime ausweise. Das Verbot sei nicht verfassungskonform, urteilte nun das Gericht mit fünf zu drei Stimmen. Zugleich überwies das Bundesverfassungsgericht den Konflikt an die Bundesländer. Diese könnten oder sollten entsprechende Gesetze erlassen, zumal sie die Schulhoheit haben. In der Entscheidung des BVG liegt eine Chance, aber auch eine Gefahr. Die Chance besteht darin, dass eine grundlegende Debatte über Religion, Schule und Staat in moderne Auffassungen mündet, die dem 21. Jahrhundert angemessen sind. Die Gefahr besteht darin, dass im toleranten Berlin anders entschieden wird, als im bergigen Bayern.“

Derweil haben sich verschiedene Landespolitiker zu Wort gemeldet. Die einen wollen das Kopftuchtragen im öffentlichen Dienst flugs verbieten, andere sehen keine Not für neue Gesetze. Die Kontroversen verlaufen quer durch alle Parteilinien. Ich bin in der Sache noch unentschieden, aber gegen populistische Schnellschlüsse. Deshalb warnte ich in einer weiteren Erklärung: „Es stimmt bedenklich, wie schnell Innen- und Bildungsminister die Verbotschance ergreifen wollen. Die Zahmen bemühen die Neutralität des Staates gegenüber Religionen, die auch in Schulen gelte. Die Harten verweisen auf Gefahren des Islam, der im öffentlichen Dienst nichts zu suchen habe. Die militante Kopftuch-Debatte geht von dem Kurzschluss aus: Kopftuch gleich fundamentaler Islam gleich Terrorgefahr gleich Verfassungsfeind. Die Trägerin wird unabhängig davon, was sie denkt oder tut, zum Staatsfeind erklärt und mit Berufsverbot bedacht. Diese Denkweise hatte eine eigenartige Entsprechung in der früheren DDR. Dort galt zuweilen: Jeans gleich USA-Freund gleich Klassenfeind gleich Kriegstreiber. Unverbesserliche wurden nicht selten aus der Schule entlassen, unabhängig davon, was sie ansonsten dachten oder taten.

Aber die Gefahr geht noch weiter: Wird erst einmal ein Kleidungsstück zum Gesinnungsstück erklärt und verboten, dann findet sich auch das zweite, dritte oder x-te, das sich von Staats wegen verbannen ließe: ein Palästinenser-Tuch oder ein Peace-Zeichen oder ein Anti-AKW-T-Shirt und so weiter. Und natürlich drohten allenthalben Berufsverbote wegen unbotmäßiger Mode. Deshalb darf die Debatte nicht Religionskundlern und Staatsschützern überlassen werden - sie ist auch eine Herausforderung für Bürgerrechtler.“

Seither schwillt die eingehende Post an. Die „Leipziger“ schimpfen, ich würde die DDR denunzieren, während sie gegen den akuten Sozialabbau kämpfen. Ein Genosse „schämt sich für mich“, weil ich dem Klassenfeind in „die Hände arbeite“. Andere schreiben mir, wie sie aus politischen, ideologischen und symbolischen Gründen zu DDR-Schulzeiten geschurigelt und dadurch zum Teil „lebenslang benachteiligt“ wurden. Einige davon sind heute in „meiner“ Partei. „Ich baue darauf, dass Sie SED-Unrecht nicht beschönigen und zugleich dem BRD-Unrecht Paroli bieten“, ließ mich ein Mitstreiter wissen. In der 14. Legislatur des Bundestages hatte die PDS-Fraktion übrigens beantragt, Schülerinnen und Schüler, denen in der DDR aus politischen Gründen Unrecht geschah, zu rehabilitieren.

Zugegeben: Ich hätte die Presseerklärung auch anders verfassen können. Aber frappierender finde ich: Zu meiner eigentlichen Frage - wie verhalten wir uns im aktuellen und komplizierten Kopftuchstreit - herrscht öffentlich PDS-Ruh', oder?

Feiern zu Magdeburg

Rund um den „Tag der Einheit“ gab es Regen und Sonne und vor allem viel Unsinn. Das war mir eine „aktuelle Notiz“ wert. Ich schreibe solche zuweilen, wenn es brenzlig oder ulkig wird und wenn ich zudem Zeit und Muße finde (siehe: www.petrapau.de). Die neue nannte ich „Feiern zu Magdeburg“: Es wurde gefeiert, höchst offiziell, wie alle Jahre seit 1990. Austragungsort ist stets das Land, das gerade den Vorsitz im Bundesrat innehat, also diesmal Sachsen-Anhalt. Danach wunderte sich im Fernsehen ein französischer Journalist: „Warum wird nur dort gefeiert und nicht überall im Lande?“ Tja, warum wohl?

Gesine Lötzsch und ich, wir waren für die PDS in Magdeburg dabei. Die offiziellen Ansprachen waren gleich lahmig. Die bundesdeutsche Prominenz würdigte die Einheit, sie pries Fortschritte und sie verwies auf Probleme. Allerweltsreden. Anschließend öffnete der Himmel seine Schleusen. Er hätte es auch so getan.

Manfred Stolpe hatte einen großen Schirm zur Hand. Er lud uns drunter. Das bot Schutz und Stoff für Medien. Stolpe als Schirmherr für die PDS? So ähnlich beschrieb eine Berliner Zeitung die Episode. Der ORB sah das gebotene Bild umgekehrt: Ohne PDS stände der Ost-Minister nass im West-Regen. Stimmt bestimmt, aber diesmal hielten politische Kontrahenten einfach mal zusammen, aus menschlichen Gründen.

Imre Kertesz ist Nobelpreisträger für Literatur. Er gab die Ausnahme von der Fest-Regel, er sprach Tacheles. Mit Blick auf die EU, indem er die Arroganz der alten Länder gegenüber den neuen kritisierte. Mit Blick auf die Welt, indem er das deutsche Nein zum US-Krieg gegen den Irak monierte. Ungarn ist noch immer eine Reise wert und für Widerspruch gut.

Allemal spannend waren die Reaktionen darauf. SPD-Politiker verschluckten die Anwürfe zur EU. CDU-Politiker wollten zum Krieg klatschten. Und draußen harrte Alt-Rocker Lindenberg mit dem geklauten Motto: „Powern statt Mauern!“ Auch er war schon mal besser drauf, früher. Aber das fiel nicht auf im allgemeinen Mittelmaß.

Die PDS nahm eine ausgesetzte Tradition wieder auf und lud zum Einheiz-Markt nach Berlin. Die „Berliner Zeitung“ ließ ganze 500 Teilnehmer zählen, die allesamt auf Ostalgie-Trip gewesen seien. Die PISA-Macke hat die Redaktionsstuben erfasst, auch in der Hauptstadt. Denn es waren Tausende, nebst Ständen aus Bremen, Bayern, Hessen. Aber die offenbarte PDS-Ignoranz ist nicht neu im Verlagshaus.

Nebenbei tobte rund um den Einheitsbrei ein Medienquiz. „Wie hieß der erste Generalsekretär der SED?“, fragte „Bild“ seine Leserschaft. Gute Frage, dachte ich und kreuzte im Internet „Erich Honecker“ an. „Falsch“, wurde ich belehrt, das sei Walter Ulbricht gewesen. Der aber war nie „Generalsekretär“. Ossis erinnern sich zuweilen besser, aber gewinnen können sie damit noch nichts.

Auch die „Berliner Morgenpost“ konnte nicht über ihren langen Schatten springen. Sie wollte wissen, welcher Feiertag wegfiel, seitdem der 3. Oktober ein solcher wurde. Die erbetene Antwort hieß: der 17. Juni. Da staunt das Ossis, denn es hatte diesen Frei-Tag nie. Wer weiß, ob sich wenigstens das Wessi erinnert?

Magdeburg bietet noch an eine andere Geschichte. Bei ihr kam wirklich zusammen, was zusammen gefügt wurde. Hier kreierte Otto von Guericke nämlich dereinst die berühmten Halbkugeln. Die hielten zueinander, weil sie innen hohl und ganz leer waren. Das war ein innovativer Sieg der Physik. Aber als Beispiel für die Politik ist er untauglich. Vielleicht sollte man darüber reden - am Tag der Einheit und überhaupt.
 

PS:
Mir ist ein Fehler unterlaufen. Auch Walter Ulbricht trug von 1950 bis 1953 den Titel „Generalsekretär“.

 

 

28.10.2003
www.petra-pau.de

 

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