Gut Ding will Weile haben ...?

Über Unworte und Zeitleisten

Beitrag von Petra Pau in „Disput“, Januar 2003

Alljährlich wird das Unwort des Jahres gekürt. Das finde ich gut, auch wenn ich die Auswahl nicht immer beklatsche. Aber das ist nebensächlich. Allein, dass über verschleiernden Sprachmist diskutiert wird, ist gut. Zu viele Begriffe vernebeln das Wesentliche.

Zum Beispiel die „Riester-Rente“. Als Wort wurde sie nicht preisgekrönt, aber auf Regierungs-Seiten wird sie als solidarisches Meisterwerk gepriesen. Ich bevorzuge ein anderes Bild: Stellen Sie sich vor, ein Gauner raubt Ihnen die Tasche und bietet Ihnen hernach eine Diebstahl-Versicherung an, staatlich gefördert. Das ist das Prinzip „Riester-Rente“.

„Zwischen den Jahren“, wie es westdeutsch heißt, also zwischen Weihnachten und Neujahr, brachte die Süddeutsche Zeitung ein Interview mit dem Kanzler. Er habe nicht den Ehrgeiz, ein zweiter Bismarck zu werden, ließ sich Gerhard Schröder zitieren. Das glaube ich gern. Denn mit Bismarck wurden Solidarsysteme eingeführt. Rot-Grün schafft sie ab.

Das neue Zauberwort heißt „Rürup-Kommission“. Auch sie soll sich der sozialen Frage widmen, heißt es, und zukunftsträchtige Reformen vorschlagen. Für wahr ein ernstes, ein überfälliges Problem. Denn wir leben nicht mehr zu Bismarcks Zeiten. Die Arbeitswelt hat sich in den über hundert Jahren seither grundlegend geändert, und nicht nur sie. Besonders forsch und fix sind derzeit die Grünen. Gern bezeichnen sie sich selbst als Reform-Motor der Bundesregierung. Was zuweilen Blüten treibt. „Die Empfehlungen der Kommission sind eins-zu-eins umzusetzen“, riefen ihre Sprecher in die Mikrofone. Da waren die „Rürups“ noch nicht mal berufen.

Gleichwohl: Es knirscht im Gebälk, auch im Gesundheitssystem. Ärzte, Kassen, Krankenhäuser, Apotheken, Pharma-Konzerne, Politiker/innen, sie alle schieben sich den schwarzen Peter zu und hinterlassen besorgte Fragen, vor allem bei den eigentlich Betroffenen. Das Thema ist also gesetzt, stärker denn je.

Und es wird die politischen Auseinandersetzungen der kommenden Monate prägen. Deshalb war auch die November-Idee des neuen PDS-Vorstandes gold-richtig: „Wir bilden mit anerkannten Experten eine alternative Rürup-Kommission.“ Eine, die das Solidarprinzip hoch hält, aus dieser Sicht moderne Konzepte entwickelt und so die öffentliche Debatte belebt.

In der Dezembersitzung wurde das Vorstandsprojekt erneut aufgerufen und vertagt. Wiedervorlage wahrscheinlich im Januar oder später. Derweil hat das Bundeskanzleramt medial-beachtete Thesen vorgelegt. Auch die Grünen provozieren mit eigenen Vorschlägen, die Verbände, die Stände, alle machen von sich reden.

Auch Mitglieder der „Rürup-Kommission“ lancierten erste Vorschläge. Etwa eine jährliche Selbstbeteiligung an den Arzt-Kosten. Oder, dass die Kassen künftig nicht mehr für Zahnersatzleistungen aufkommen könnten. Zudem will Gesundheitsministerin Schmidt - laut SPD-internem Zeitplan - ihre so genannte Reform bereits bis Ende Mai diesen Jahres im Bundestag vollbracht haben.

„Einhundert Tage sollte ein neuer Vorstand Zeit haben“, las ich in einem PDS-Interview. Ja, das ist Usus. Wir beide im Bundestag hatten sie nicht. „Gut Ding will Weile haben“, meint der Volksmund. „Sind wir bis Jahresende nicht im politischen Geschäft, dann sind wir raus.“ So soll Hans Modrow in Vorstandskreisen gemahnt haben. Das war im November, nach Gera.

2004 finden die nächsten für die PDS relevanten Landtagswahlen statt. Auch das EU-Parlament wird neu gekürt. Möglicherweise sogar einige Monate früher, als bislang angenommen wurde. Das ist planbar und wurde im Vorstand auch in eine entsprechende „Zeitleiste“ gegossen. Die innerparteiliche Logik stimmt. Bis Herbst 2003 soll die PDS-Programmdebatte zu einem guten Ende geführt werden. Dann folgt der Europa-Wahlkampf.

Bis dahin aber haben andere Parteien die EU-Themen besetzt, oder sie interessieren ohnehin niemanden. Lauscht man ins Land, dann haben EU-Themen nicht gerade Konjunktur. Aber es bewegt sich was, in Westeuropa. Stichworte sind die Osterweiterung, der Konvent oder die zunehmende Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik. Ohnehin werden schon heute rund 80 Prozent aller politischen Entscheidungen, die sich auch hierzulande auswirken, auf EU-Ebene gefällt.

Anfang Januar befasste sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der PDS „Bürgerrechte und Demokratie“ mit dem EU-Konvent, also der künftigen Verfassung der europäischen Gemeinschaft. Die PDS-Position ist klar, das wussten wir vordem: Wir fordern seit längerem eine Volksabstimmung über das Konventergebnis, EU-weit. So weit, so demokratisch. Doch was empfehlen wir inhaltlich?

Was weiß die Öffentlichkeit überhaupt vom Verhältnis „PDS und EU“? Und was weiß die PDS davon? So ward eine Idee geboren: Warum nicht im Juni einen Parteitag durchführen, der entsprechende Leitlinien diskutiert und beschließt. Wir hielten dies allemal für spannender und politischer als „Wachbuch“-Kontroversen und ähnliches Ungemach, das derzeit PDS-Schlagzeilen setzt. Daraus wurde ein Vorschlag an den Parteivorstand.
 

 

 

15.1.2003
www.petra-pau.de

 

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