Falsche Fragen, schlechte Antworten

in: Jungle World Nr. 3 vom 11. Januar 2003

Jungle World 3/03Die Orakel dröhnen. Die Wirtschaftskrise dauert! Die Lebensarbeitszeit muss verlängert werden! Die Lohnnebenkosten müssen runter! Die Sozialdämme brechen!
 
Kaum jemand fragt noch nach Belegen. Die Wirtschaft kriselt? Wo? Hierzulande wächst sie, nicht üppig, aber immerhin. Ganz zu schweigen von den durchschnittlichen Gewinnen großer Konzerne. Die Lohnnebenkosten müssen runter? Warum? Für Profite sind sie zweitrangig. Da schlagen Produktivität und Innovation ganz anders zu Buche. Die Steuern sind zu hoch? Bei wem? Den Unternehmen, die sich arm rechnen und ihre Scheinverluste staatlich vergolden lassen? Egal, die Orakel dröhnen weiter, wieder und wieder.
 
„Es muss umgebaut werden“, lautet die Botschaft, „radikal.“ Gemeint sind vor allem die Sozialsysteme. Kaum jemand spricht dabei noch von Solidarsystemen. Deren Sinn war übersichtlich: Gesunde helfen Kranken, Verdienende helfen Arbeitslosen, Reiche helfen Armen. Derweil zahlen Kranke mehr als Gesunde, Arme mehr als Reiche, abhängig Beschäftigte mehr als viele Unternehmer. Mit den bekannten Folgen: Das Staatssäckel und die Sozialkassen sind leer. Und aus dem Solidarprinzip werden Kasko-Versicherungen mit wachsender Selbstbeteiligung. Die Orakel fragen nicht nach Artikel 20, Absatz 1, Grundgesetz: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein (…) sozialer Bundesstaat.“
 
Wer falsche Fragen stellt, bekommt schlechte Antworten. „Können wir uns die Sozialsysteme noch leisten?“, geben die Orakel zu bedenken und befinden prompt: „Nein!“ Auf andere Pfade gelangt, wer fragt: „Wie können wir das Solidarsystem retten?“ Beispiel Arbeitgeberanteil. Zu Bismarcks Zeiten wurden die Anteile paritätisch erhoben. Ob Kranken-, Renten- oder andere Kassenbeiträge, ein Teil wurde vom Lohn abgezogen, ein gleich großer vom Gewinn. Das schien damals gerecht. Denn wer viele bei und für sich beschäftigte, wer folglich entsprechend verdiente, der sollte auch mehr Sozialbeiträge zahlen als kleinere Unternehmen.
 
Das Prinzip gilt offiziell noch heute, obwohl es in zweifacher Hinsicht überholt ist. Zum einen, weil sich die Gewinnerwartung eines Unternehmens nicht mehr primär aus der Zahl der Beschäftigten ableitet. Die Arbeitswelt ist eine andere. Zum anderen, weil die Arbeitgeber schon längst nicht mehr paritätisch beteiligt sind. Für jedes Rezept wird einseitig eine Gebühr kassiert, von den Lohnabhängigen, den Kranken. Und wer seine Rente nicht zusätzlich privat „verriestert“, muss mit Abzügen leben.
 
Nicht nur die PDS schlägt seit langem einen Systemwechsel vor, der zeitgemäß wäre und gleichzeitig das Solidarsystem stärken könnte. Der Arbeitgeberanteil sollte nicht mehr nach der Lohnhöhe eines Unternehmens berechnet, sondern durch eine Wertschöpfungsabgabe ersetzt werden. Aber die Orakel dröhnen weiter und die Politik zollt Beifall. „Die Vorschläge der Rürup-Kommission werden wir eins zu eins umsetzen“, hieß es aus grünen Kreisen, als die Kommission noch nicht mal gebildet war.

Petra Pau, MdB (PDS)

 

 

11.1.2003
www.petra-pau.de

 

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