Plädoyer für soziale und individuelle Freiheits-Rechte

Beitrag im Arbeitskreis „Selbstverständnis“ der neuen LINKEN auf dem ProgrammKonvent „Auf dem Weg zur neuen Linkspartei in Deutschland“,
30. Oktober 2006, Hannover

1. 

Ich beziehe mich auf die „Programmatischen Eckpunkte auf dem Weg zu einer neuen Linkspartei in Deutschland“ vom 18. September 2006. Konkret auf Abschnitt III, Punkt 4: „Mehr Demokratie wagen…'.“ Selbst diese Einschränkung ist noch zu viel für einen fünf Minuten Beitrag. Also greife ich ein Stichwort heraus: „Stärkung der individuellen Rechte“.
Es ist nahe liegend, dass LINKE vor allem die soziale Frage im Blick haben. Und selbstverständlich auch die Friedens-Frage. Es ist überhaupt nicht nahe liegend, dass LINKE sich mit demselben Anspruch für Bürger- und individuelle Freiheitsrechte engagieren. Das zeigt die Geschichte. Umso mehr werbe ich dafür: Soziale und individuelle Freiheits-Rechte dürfen weder gegeneinander gestellt, noch hierarchisiert werden.

2. 

Im real-existierenden Sozialismus sowjetischer Prägung stand die soziale Frage obenan. Bürger- und individuelle Freiheitsrechte galten als nachgeordnet, vielfach galten sie gar nicht. Das war ein Grund für das Scheitern der DDR und eines Sozialismusversuches, der 1917 mit der Oktoberrevolution begann, zuweilen ein Drittel der Erde umspann und 1989/90 wie ein Kartenhaus zusammen fiel.
Ich lese Papiere, die rund um die neue LINKE geschrieben werden. Und ich höre Meinungen, die sagen sinngemäß: jeder Sozialismus-Versuch verdiene jede linke Solidarität. Dem widerspreche ich ausdrücklich. Meine Solidarität gilt allen Gesellschaften, in denen die soziale Frage -selbst unter widrigsten Bedingungen - sozial beantwortet wird.
Aber ich bin nicht (mehr) bereit, sie gegen Bürgerrechte aufzuwiegen.

Im real-existierenden Kapitalismus westlicher Prägung genießen Bürger- und individuelle Freiheitsrechte Verfassungsrang. Das sollten LINKE nicht gering schätzen. Und mein Kollege Wolfgang Neskovic hat im Bundestag zu Recht darauf verwiesen, dass Prinzipien des Demokratischen Sozialismus durchaus im Grundgesetz angelegt sind, nicht nur versteckt, sondern grundsätzlich.

3. 

Messen wir aber den Grundsatz an der Realität, dann wird sehr schnell deutlich: Der Sozialstaat wird Zug um Zug abgewickelt und mit ihm zugleich Bürgerrechte und der Rechtsstaat. Ich will das an einem Beispiel illustrieren: Hartz IV. ALG-II-Empfänger werden systematisch verarmt und mit ihnen ihr Umfeld. Das ist die soziale Seite.
Zugleich werden ihnen 150 bis 180 persönliche Daten über sich und ihr familiäres Umfeld abgezwungen, verarbeitet und abgeglichen. Sie müssen sich einer staatlichen Kontrolle unterwerfen, wie vorbestrafte Kriminelle. Das eherne Rechtsstaatsprinzip der Unschuldsvermutung wird umgekehrt. Sie gelten als potentielle Betrüger, so wie Migrantinnen und Migranten als potentielle Terroristen gelten.
Dass und wie ärmere Schichten als Bürger zweiter und dritter Klasse behandelt werden, erleben wir auch noch auf anderen Feldern, etwa im ganz normalen Wirtschaftsleben. So weigern sich zahlreiche Banken, Menschen mit geringen Einkommen überhaupt ein Konto einzurichten.
In Hamburg läuft gerade eine große Kampagne, weil die Sparkasse seit Jahren die Konten von Geringverdienern mit einem besonderen Zahlencode versieht und die Kontoinhaber damit stigmatisiert. Und Versandhäuser haben Übersichten über Landschaften und Stadtteile, die als arm und deren Bewohner daher als nicht kreditwürdig gelten.
Das ist eine spezifische Form der Sippenhaft und hat mit der Würde des Menschen (Grundgesetzes Artikel 1) sowie mit dem Gleichheits- und Antidiskriminierungs-Gebot (Grundgesetz Art. 3) nichts zu tun. Auch hier geht es um soziale Rechte und zugleich um Bürgerrechte.
Und wie groß der Verfall der Sitten inzwischen ist, können wir aktuell in Brandenburg erleben. Der Generalsekretär der CDU überwacht den e-mail-Verkehr seines Landesvorstandes, inklusive Minister. Ein klarer Verstoß gegen das Post- und Fernmelde-Geheimnis (Grundgesetz Art. 10) und avanciert zugleich aussichtsreich zum neuen CDU-Landes-Chef.

4. 

Das alles sind keine Überreaktionen untergeordneter Behörden. Das ist offizielle Politik, per Gesetz sanktioniert. Wer arm dran ist, verliert auch seine Bürgerrechte. Arbeitszwang statt freier Berufswahl. Bürger- und individuelle Freiheitsrechte gelten nur noch für die Schönen und Reichen. Das alles wird selbst in den öffentlich-rechtlichen Medien hofiert und was noch schlimmer ist, inzwischen allgemein gesellschaftlich respektiert.
Dieselben Angriffe auf verbriefte Bürgerrechte erleben wir natürlich auch immer wieder im Namen der Sicherheit, insbesondere, seit dem 11. 09. 2001. Und das ganz unverhohlen mit einem Trick. Und der besteht darin, dass die Sicherheit zu einem Grundrecht erhoben wird.
Natürlich gibt es ein Recht auf Sicherheit. Das hat jede Bürgerin und jeder Bürger und die LINKE wäre völlig falsch beraten, wenn sie das nicht ernst nimmt. Aber es gibt kein Grundrecht auf Sicherheit, das so, wie es Schily und Schäuble tun, aus dem Grundgesetz ableitbar wäre.
Deshalb ist es immer auch ein plumper Trick, wenn gesagt wird, Bürgerrechte und Sicherheit seien zwei Seiten derselben Medaille. Das stimmt mit Blick auf die Verfassungs-Philosophie nicht und das stimmt auch praktisch nicht. Beide stehen in einem Spannungsverhältnis.
Und nahezu jede Maßnahme, die namens vermeintlicher Sicherheit verfügt wird, ist immer zugleich ein Eingriff in verbriefte Grund- und Bürgerrechte. Wir kennen das vom großen Lauschangriff. Und dasselbe trifft zu, wenn es um eine zentrale DNA-Datei und anderes mehr geht.

Umso mehr mein Plädoyer: Wir müssen die in den Programmatischen Eckpunkten nur knapp skizzierten Bürger- und Freiheitsrechte größer schreiben. Zumal es hierzulande keine Partei gibt, die soziale und Bürger-Rechte wirklich zusammen denkt. Das muss ein Markenzeichen der neuen LINKEN sein und dafür werde ich mich weiter engagieren.

5. 

Zugleich merke ich an: So einfach, wie das grundsätzlich und abstrakt klingt, ist es in der Praxis nicht. Ich habe Anfang der Woche auf der Fraktions-Klausur bewusst einen Konflikt geweckt, der bis dato schlummerte. Es gibt ihn noch immer und deshalb will ich ihn auch hier, auf dem Programm-Konvent, beschreiben. Es geht um die Autobahn-Maut, um TollCollect und letztlich um Gefahren für die Demokratie.
Es gibt anerkannte LINKE, die aus ihrem Gerechtigkeitsanspruch heraus fordern: Ja, wenn die Maut-Daten helfen können, Schwerverbrecher zu finden, dann muss man sie dafür nutzen. Und es gibt LINKE Verkehrspolitiker, die sagen, wenn das Maut-System hilft, den Lkw-Verkehr zu begrenzen, dann bitte auch auf Fernverkehrsstraßen.

6. 

Und dann gibt es LINKE Bürgerrechtler, wie ich, die sagen: Wenn ihr der Totalüberwachung Vorschub leisten wollt, dann müsst ihr das fordern. Ich will das nicht. Denn das TollCollect-System hat die Potenz zur Total-Überwachung und genau deshalb hat es ja auch den Zuschlag bekommen.
Anders gesagt: Es reicht nicht, wenn wir uns in Programmatischen Eckpunkten für eine „Stärkung der individuellen Rechte“ aussprechen. Wir müssen sie bei allen Sach-Konflikten im Blick haben. Und bedenkt: Das technologische Überwachungspotential der BRD anno 2006 ist unglaublich größer, als das der untergegangenen DDR 1989.

7. 

Und damit komme ich zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Es ist 23 Jahre alt, es gehört zu seinen besten, es wird allgemein als „Volkszählungsurteil“ bezeichnet und es sollte eine Grundlektüre für jede neue LINKE sein. Denn es hebt den Datenschutz ins Verfassungsrecht und das aus ganz grundsätzlichen, demokratischen Erwägungen.
Das Urteil salopp übersetzt: Wer die Kontrolle über seine persönlichen Daten verliert, verliert seine Persönlichkeit und Souveränität. Eine Demokratie ohne Souveräne aber kann keine Demokratie sein. Deshalb ist Datenschutz mitnichten Täterschutz, wie die Union meint. Vielmehr ist er unverzichtbar für die Demokratie und damit Verfassungsschutz.

8. 

Ich will diesen Komplex noch etwas untermauern. Mit einem Orakel. Das „Volkszählungsurteil“ wurde damals erzwungen, weil es eine berechtigte Skepsis gab, ob der Staat die geforderten Daten wirklich braucht. Und es gab ein kritisches Gespür dafür, dass er sie missbrauchen könnte.
Heute gibt es in der Gesellschaft viel Naivität, wenn es um den Datenschutz geht. Und die Zahl der weltweit gesammelten und kursierenden Daten ist längst unüberschaubar und für den Einzelnen überhaupt nicht mehr kontrollierbar. Und das hat weitreichende Folgen.
Meine Prognose ist: Wir nähern uns einem Punkt, an dem jeglicher Datenschutz ob der massenhaft und unkontrollierten kursierenden Daten irreversible vernichtet sein wird. Und das wiederum heißt: Die Demokratie wird nicht nur durch Terroristen, durch Diktaturen oder durch die Globalisierung, sondern auch durch die Datenwut entwurzelt.
Und so hat auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar Anfang September 2006 sehr nüchtern resümiert: Deutschland verwandle sich „immer mehr in eine Überwachungsgesellschaft“ und sei auf einem „verfassungsrechtlich höchst problematischen Weg“. Peter Schaar ist keine Kassandra. Er formuliert stets zurückhaltend und diplomatisch.

Mehr Anmerkungen lassen meine fünf Minuten nicht zu. Deshalb nur noch die: Die Geschichte der Bürger- und Menschenrechte ist lang und widersprüchlich. Wer nach ihren Wurzeln sucht, findet sie sogar in den Tiefen der Religion: im Christentum, im Judentum, auch im Islam. Kurzum: Wir brauchen viele Partner. Sonst gibt es keine neue LINKE.

(Die blauen Texte wurden aus Zeitgründen auf dem Konvent nicht gesprochen.)

 

 

30.9.2006
www.petra-pau.de

 

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