Wettstreit für soziale Gerechtigkeit

Neue Chancen sind erarbeitet - jetzt keine Zeit verlieren

aus dem Referat von Petra Pau, PDS-Landesvorsitzende, auf der 1. Tagung des 7. Landesparteitags der Berliner PDS am 11. Dezember 1999

Ich möchte mit einem Dank und einer Ermutigung beginnen.
Danke sage ich allen Delegierten des 6. Parteitages, die von 1997 bis heute den Landesparteitag gebildet haben. Es war eine spannende, durchaus auch kontroverse, aber unter dem Strich erfolgreiche Arbeit. Einen Überblick über das Geleistete findet ihr im Parteitagsmaterial. Also nochmal: Vielen Dank.

In diesem Sinne möchte ich alle Delegierten des 7. Landesparteitages begrüßen und ermutigen: Wenn es denn stimmt, dass der Berliner PDS eine größere Verantwortung und Erwartung angetragen wurde, und es stimmt, dann lasst uns frisch an die Arbeit gehen, engagiert und kritisch, in der Sache streitend, miteinander wollend, uns nie als Selbstzweck begreifend, stets politik-, gesellschafts-, also erfolgsorientiert.

Ebenso danken möchte ich unseren bisherigen Fraktionen im Abgeordnetenhaus und in den Bezirksverordnetenversammlungen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenso,  wie den Gewählten mit und ohne PDS-Buch. Natürlich beinhaltet das die dringende Bitte an die Fraktionen, den Wahlschwung in politischen Druck zu übersetzen.

Dank sagen möchte ich unseren Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, den Stadträtinnen und Stadträten mit PDS-Mandat, vor allem jenen, die ihr Bezirksamt auch als PDS- und Landespolitik praktizieren und so auch heute und morgen unseren Parteitag bereichern.

Und ich begrüße die Mitglieder des Bundesvorstandes, des EU-Parlamentes und der Bundestagesfraktion, die sich angemeldet haben oder schon präsent sind. (Namen) Allen, auch den interessierten Medien, ein herzliches Willkommen im gastgebenden Schöneberger Rathaus.

Dass wir heute hier tagen, war eine bewusste, gewollte Entscheidung. Wir wollten den Parteitag im „West“-Teil der Stadt konstituieren und damit unseren gesamstädtischen Anspruch als sozialistische Partei unterstreichen. Und dass wir im Willy-Brandt-Saal des Schöneberger Rathauses tagen, hat durchaus auch etwas Anspruchsvolles:

In den letzten Wochen wurde ja viel des Herbstes vor zehn Jahren gedacht, viel Unsinn geschrieben und manch Nachdenkliches gesagt.
Ich erinnere an ein Zitat von Willy Brandt, und zwar so, wie es historisch korrekt war:
„Die wirtschaftliche Aufforstung und die soziale Absicherung liegen nicht außerhalb unseres Leistungsvermögens. Die Überbrückung geistig-kultureller Hemmschwellen und seelischer Barrieren mag schwieriger sein. Aber mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammen wächst, was zusammen gehört.“

Ich möchte dem Eia-Popeia-Jubel, den einstige Bürgerrechtler wie Gauck oder Templin anstimmten, die Fragen derer entgegen halten, die damals Opposition waren und auch heute noch für Bürgerrechte streiten (Reinhard Schult, Marion Seelig, Judith Demba...)

Sie fragten in einem offenen Brief an Festredner Gauck:
„Erinnern Sie sich noch? Wir wollten nicht nur die Stasi auflösen, wir wollten überhaupt keine Geheimdienste mehr... Wir wollten nicht nur reisen, wir wollten auch ein Land, in dem Flüchtlinge nicht wie Ballast verwaltet und „entsorgt“ werden... Wir wollten nicht nur den Warschauer Pakt verschwinden sehen, wir wollten überhaupt keine Militärblöcke mehr...“
Schließlich mahnten sie:
„Es wird Zeit, dass wir nicht nur in Neufünfland, sondern in ganz Deutschland die Unterwürfigkeit ablegen.“
Soweit aus dem offenen Brief.

Ich meine, dies sollte, im Inhalt und im Widerstand, auch unser Anspruch bleiben: als eine Partei, die dem '89er Aufbruch ihre Erneuerung verdankt, als eine Partei, die zur gesellschaftlichen Opposition gehört, als eine moderne sozialistische Bürgerrechtspartei...
...und als Antikriegs-Partei.

Seit Tagen steht ein unmenschliches Ultimatum im Raum:
Wer die tschetschenische Hauptstadt Grossny nicht bis heute verlässt, gilt als Feind Russlands und wird daher vernichtet.

Die PDS hat gegen den NATO-Krieg im Kosovo protestiert - zu Recht. Wer dagegen protestierte, hat nicht nur das Recht, sondern auch die Verantwortung, zum Feldzug der Jelzin-Administration gegen das tschetschenische Volk Nein zu sagen. Wir sagen entschieden: Nein!

Und wir fordern alle direkt oder mittelbar Beteiligten auf, nach politische Lösungen statt nach militärische Szenarien zu suchen.

Nun hat Russlands Präsident mit Atomwaffen gedroht. Vordem haben sich die USA verweigert, die atomare Bedrohung zu mindern. Beide verspielen die Chance, die als „Neues Denken“ umschrieben wurde und vor zehn Jahren weltweit, in Ost wie West, alternativlos geboten schien.

Wir fordern die Bundesregierung auf, als Repräsentantin des Friedens und umfassender Abrüstung zu agieren - gegen atomare Weltmachtgelüste der USA und Russlands.

* * *

Die Zeit ist schnell-lebig - noch immer. Aber vielleicht erinnert ihr euch. Am 10. Oktober haben wir einen Wahlerfolg gefeiert, den wir gemeinsam erarbeitet haben. Gemeinsam!

Wir wollten unsere Position als 3.-stärkste Partei auf Landesebene behaupten. Wir haben sie ausgebaut. Wir wollten im Ostteil unsere kommunalpolitische Kompetenz bestätigen. Wir haben zugelegt. Und wir wollten in möglichst viele BBV im Westteil einziehen. Auch diese Premiere ist uns in acht Bezirken gelungen:
- ein Berliner Beitrag zum bundesweiten Aufbau der Partei des Demokratischen Sozialismus;
- unser Beitrag dafür, dass demokratischer Sozialismus in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch eine Partei-Anschrift hat.

Lasst mich einen Moment das beliebte Klischee der rückwärtsgewandten Partei bedienen. Vor knapp zehn Jahren begab sich die Berliner SED/PDS auf einen wahrlich unbestimmten Weg. Eine Delegierte zitierte Erich Kästner und über ihn die damalige Zeit: „man nimmt ihr täglich Maß und denkt beklommen, so groß wie heute war die Zeit noch nie.“
Das war im Februar 1990, einen Monat vor der letzten Volkskammer-Wahl in der DDR am 18. März. Ein anderer Delegierter mahnte seinerzeit, die laufende PDS-Antragsdiskussion interessiere in der Stadt wohl niemanden,die Frage sei vielmehr, ob wir, also die Berliner PDS, überhaupt (Zitat) „bis zum 18. 3. kommen“.

Heute, und das betrifft auch die Arbeit dieses Parteitages, gibt es keine PDS-Antragsdiskussionen mehr, die von vornherein niemanden interessieren. Warum das so ist, zeigt auch ein 10-Jahresvergleich der Wahlen zum Abgeordnetenhaus. CDU und Bündnis-Grüne sind 1999 in etwa wieder da, wo sie 1990 waren, die SPD verlor fast ein Drittel ihrer Wählerschaft. Nur die PDS hat ihr Ergebnis landesweit fast verdoppelt. Und irgendwie muss das auch mit der PDS, also mit uns zu tun haben. Deshalb bitte ich euch herzlich, sagt allen Beteiligten Dank.

* * *

Ein Wahlziel, und das gehört zur Bilanz, wurde nicht erreicht. Obwohl wir unseren Beitrag geleistet haben. Wir wollten über die Ablösung der Großen Koalition einen Politikwechsel für die Stadt, hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit, hin zu mehr Demokratie, hin zu einem „Berlin für alle!“ Seit vorgestern haben wir den dritten Aufguss einer Koalition, die nicht einmal mehr eine große ist. Vielmehr deutet alles daraufhin:
Berlin wird weiter verwaltet von einer Selbsttherapie-Gruppe, ohne Heilungsaussicht, jedenfalls nicht für die Stadt.
Das zeigt übrigens auch die Koalitionsvereinbarung: Ein Mix gegenläufiger Absichtserklärungen, die unterm Strich mehr kosten werden, als stadtverträglich ist.
Drei Beispiele nur:

1. Verkehrspolitik:
Die neue Koalition hält fest an der U-5, der Kanzler-U-Bahn. Obwohl dies verkehrspolitisch unsinnig ist, obwohl das aus Mitte lange Zeit eine Brache machen wird, obwohl dies alle Mittel binden wird, die für den ÖPNV dringend benötigt werden.

2. Arbeitslosigkeit:
Die neue Koalition hat das Bündnis für Arbeit zur Chefsache erklärt. Innovation: Null! Denn das sogenannte Bündnis für Arbeit war schon in der letzten Legislatur erfolglos entschlummert, als Chefsache.

3. Bildungspolitik:
Die SPD ist wieder einmal umgefallen und hat den Einstieg in Studiengebühren freigegeben. Zugleich fehlt eine Ausbildungsplatzabgabe für jene, die nicht ausbilden. Eine solche Abgabe ist immerhin Beschlusslage des Abgeordnetenhauses.

Das alles steht unter dem Anspruch, (Zitat Koalitionsvereinbarung):
Allen Bürgerinnen und Bürgern „gleiche Zukunftschancen“ zu erhalten. So bleibt Berlin nicht mal Berlin, so werden Probleme gemehrt, so wird Zukunft verspielt.

Deshalb: Selbst ein CDU-Minderheits-Senat wäre eine bessere Lösung gewesen, als die Neuauflage der CDU-SPD-Koalition. Denn dies hätte die Regierung veranlasst, sich in Sachfragen parlamentarische Mehrheiten zu suchen. Und das hätte geheißen: Mehr Demokratie wagen. Aber auch diese Option scheiterte am SPD-Verharrungsvermögen.

Niemand sollte darauf wetten, wie lange diese Koalition halten wird. Hoffen wir auf ein möglichst schnelles Verfallsdatum.Und gerade deshalb sage ich, vor allem auch an die Adresse der SPD:
Alle Parteien, die zu den nächsten Abgeordnetenhaus-Wahlen einen Politikwechsel anstreben, können diesen nur gemeinsam erreichen.
Diese Parteien stehen daher - jetzt - vor der Aufgabe, eigene Beiträge dafür zu leisten, dass sich neue gesellschaftliche Mehrheiten entfalten können.
Andersherum: Einen Aufbruch in und für die Stadt wird es nur geben, wenn die SPD-Führung das Thema PDS nicht länger unter Tabu stellt.

Übrigens: Der erklärte PDS-Gegener und ehemalige Berliner Innensenator Schömbohm scheint in diesem Erkenntnisprozeß schon weiter zu sein, als die Berliner SPD, als Strieder & Co..Brandenburgs CDU-Vormann will einen Neuanlauf der Fusion von Berlin-Brandenburg, und die PDS diesmal „mit ins Boot nehmen“. Was im Umkehrschluss heißt: Hätte man uns und die Bedenken vieler Bürgerinnen und Bürger 1995/96 nicht arrogant und ignorant links liegen gelassen: Wer weiß?!

Unabhängig aller parteipolitischen Winkelzüge, die Schönbohm leiten mögen: Die föderalen Strukturen der Bundesrepublik gehören auf den Prüfstand. Nicht auf Bayerische Art, also länderegoistisch, sondern mit europäischem Blick und solidarischem Anspruch. So, wie es auch im „Rostocker Manifest“ der PDS angelegt ist. Dabei geht es um mehr, als um die Frage, ob und wie Berlin und Brandenburg fusioniert werden kann? Es geht nicht um Klein-Preußen, nach Stolpes Präsidial- oder Landowkys Besen-Wünschen, sondern
- um eine umfassende Reform der föderalen Strukturen,
- um eine neue Kompetenz-Verteilung zwischen Bund und Ländern,
- um eine Neuordnung des Länderfinanzausgleiches,
- und schließlich um eine Neugliederung des Bundesgebietes.
Das wird auch unser Thema sein, bleiben und müssen. Aber das ist etwas anderes, als Schönbohms Bootsfahrt auf toten Tümpeln und sein Angebot, die PDS möge mitrudern.

Dennoch hat Schönbohm mit einem CDU-Tabu gebrochen, nämlich dem Hintze-Credo: Die PDS gehöre auf die Leine, besser noch ins Fegefeuer. Ich habe wohl vernommen, dass der alte und neue Regierende Bürgermeister, Eberhard Diepgen, in seiner Antrittsrede am Donnerstag alle, ausdrücklich alle Parteien im Abgeordnetenhaus, um eine faire Zusammenarbeit ersucht hat.
Anmerkung 1: Warten wir den nächsten Verfassungsschutzbericht ab.
Anmerkung 2: Wir haben uns noch nie sachlicher Politik verweigert.
Anmerkung 3: Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer und nach der Vereinigung der Stadt sollte der kalte Krieg in der Tat aus den Köpfen  und aus der Berliner Politik verschwinden.Dafür tragen insbesondere die im West- und Ostteil jeweils stärksten Parteien die Verantwortung, also PDS und CDU.

Zugleich und um weiteren Spekulationen vorzubeugen: Das ist alles andere als ein Koalitionsangebot. PDS und CDU, das sind zwei gegensätzliche Politikentwürfe. Nicht, weil sich hier Ost und West gegenüberstehen. Neo-Liberalismus und Demokratischer Sozialismus sind kein Paar, sondern zwei gänzlich unterschiedliche Schuhe. Werthebach oder Landowsky (CDU) und Seelig oder Wolf (PDS) passen nunmal nicht unter einen gemeinsamen Hut. Aber ein Wettstreit um politische Konzepte, und darum geht es, setzt schlicht voraus, dass man miteinander redet, nicht nur übereinander oder gar nur rückwärtsgewandt gegeneinander.

Das Verhältnis der Berliner PDS zu CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestaltet sich über „Auseinandersetzung, Wettstreit und Kooperation“, nicht über Wahlverwandtschaften oder Ausgrenzungsbeschlüsse. In diesem Sinne werden wir alle Parteien zu einem „Wettbewerb für mehr soziale Gerechtigkeit“ herausfordern.
Und wir werden - wie bisher und unserem Selbstverständnis folgend - dazu den Dialog mit Gewerkschaften, Initiativen, Kirchen und anderen außerparlamentarischen Kräften suchen.

* * *

Eine Partei für soziale Gerechtigkeit zu sein, und als solche ernst genommen zu werden, das bleibt unser Anspruch und Markenzeichen: auf Bundes-, Landes- und auf Bezirksebene, in Ost wie West. Seit einiger Zeit ist ein bundesweiter Parteienstreit um "soziale Gerechtigkeit" ausgebrochen. Leider zu meist nur um den Begriff und zu wenig in der Sache. Eine Meldung brachte just zum SPD-Parteitag hierzu eine makabres Beispiel: Die Einzelhandels-Umsätze seien weiter auf Talfahrt, hieß es darin. Und das, liebe Genossinnen und Genossen, trotz verlängerter Öffnungszeiten und zusätzlicher Shopping-Sonntage.
Zu den wenigen Branchen, die ein Umsatz-Plus verzeichnen, gehören Apotheken  sowie Anbieter von medizinischen Erzeugnissen. Eine Politik, die das bewirkt, ist krankhaft, aber nicht sozial. Bundeskanzler Schröder verteidigte auf dem SPD-Parteitag den rot-grünen Sparkurs mit einem richtigen Argument. Die von der Kohlregierung hinterlassene Staatsverschuldung sei unsozial, weil immer mehr Steuergelder als Gewinn den Banken zufließen. Dann setzte er eins drauf, ohne zu merken, was er eigentlich sagte: Draufzahlen würden die kleinen Leute.
Er setzt also schon im Kopf Steuerzahler und kleine Leute gleich.Und er tut nichts dagegen. Die Vermögenden bleiben auch unter Rot-Grün unbehelligt, während die „kleinen Leute“ den Haushalt sanieren sollen.

Laut emnid waren nach einem Jahr rot-grüner Regierung 72 Prozent der repräsentativ Befragten „enttäuscht“, knapp die Hälfte gab an, SPD gewählt zu haben, Zitat: „weil ich mehr soziale Gerechtigkeit wollte“. Vor diesem Hintergrund mag man sich über den gerade zellebrierten „SPD-Parteitag der Einheit und Gefolgschaft“ wundern.

„Ich kann wirklich nur müde lächeln“, hatte Schröder vorab gesagt, „müde lächeln über diejenigen, die über Alternativen (zu seiner Politik) nachdenken.“ (Zitat aus Tagesspiegel, 5. 12. 1999)
Gestattet mir dazu ein zweites Willy-Brandt-Zitat:
„Politiker, die Dogmen huldigen oder ihren Platz auf einem Podest staatsmännischer Unfehlbarkeit beanspruchen, verdienen kein Vertrauen.“ (Zitat aus „Willy Brandt - Erinnerungen“, S. 500)

Ich sage dies alles, um zu verdeutlichen: Der Kampf um mehr soziale Gerechtigkeit wird nicht leichter. Er ist auch mehr, als Besitzstandswahrung. Er erfordert neue Antworten auf eine uralte Frage. Er wird uns auch in der programmatischen Debatte fordern. Und wenn es heißt, Rot-Grün würde auf der linken Seite viel Platz räumen, dann heißt das doch auch: potentielle Partner kommen abhanden.>
Wohl gemerkt, auf der parlamentarischen Bühne, nicht im politischen, im unmittelbaren Leben.

Allerdings, und das ist eine weitere Gefahr:
Versagt Rot-Grün, dann droht ein weiterer Rechtsruck. Auch deshalb:
Lasst uns die Herausforderung annehmen. Lasst uns gemeinsam mit gesellschaftlichen Partnern Druck von links entwickeln. Lasst uns darum ringen, dass soziale Alternativen mehrheitsfähig werden.

* * *

Seit der letzten Tagung eines PDS-Landesparteitages wurde unsere Stadt bereichert Bundestag und Bundesregierung haben über die Sommer-Monate hier ihre Arbeit aufgenommen.
Sie kamen spät und zu teuer, aber sie waren uns willkommen, auch die PDS hatte seinerzeit für den Umzug gestimmt. Ein Pro-Argument war damals, dass Parlament und Regierung dorthin gehören, wo die Probleme am augenfälligsten sind, wo sich Bürgerinnen und Bürger am besten in Erinnerung bringen können. Dieses Argument war offenbar zutreffend. Denn schon denken CDU/CSU-Politiker lauthals über eine Bannmeile nach, während Innensenator Werthebach Demonstrationen aller Art aus der Innenstadt verbannen möchte.
Beides lehnen wir nach wie vor ab. Das Demonstrationsrecht, das Recht auf freie Meinungsäußerung, ja, auch das Recht auf Protest, sind ein Verfassungsrechte.
Und es ist doch verlogen, einerseits die 89er Proteste in der DDR als historisch zu preisen und zugleich 99er Proteste in der BRD als störend abzuqualifizieren. Zumal es Gründe genug gibt, der Bundesregierung klar zu machen, was zehn Jahre nach der Vereinigung noch an „Zusammenwachsen“ zu leisten ist.

Ich stehe bestimmt nicht in dem Verdacht, Eberhard Diepgen zu preisen. Aber immerhin hat er schon vor Jahren erkannt, dass es binnen eines Landes nicht zwei Tarife geben kann, einen für Wessis und einen für Ossis. Ausgerechnet ein SPD-Innenminister kommt nun daher, und findet das vollkommen in Ordnung: Otto Schily, als RAF-Verteidiger gestartet und als Spalter rechts von der CDU gelandet.

Und weil wir gerade bei Protest sind: Wir werden nicht zulassen, dass der Palast der Republik auf kaltem Weg entsorgt wird, und statt dessen, wie von der FDP beantragt, eine privat-finanzierte und genutzte Schlossatrappe gebaut wird. Die Spree-Insel ist ein öffentlicher Platz, übrigens der einzig nennenswerte, der im Dreieck mit dem Regierungsviertel und dem Potsdamer Platz noch verfügbar ist. Deshalb muss er wieder ein Treff für Bürgerinnen und Bürger mit öffentlich nutzbaren Gebäuden werden, so wie es der Palast war. Es geht um die Zukunft der Stadt, nicht um nostalgische Reproduktionen. Und schon gar nicht geht es an, dass der Kanzler mal so aus dem Fenster guckt, und sich ein Schloss wünscht. Wir leben in der Berliner Republik, nicht in der Wilhelminischen Zeit.

Weil wir gerade bei der Stadt-Mitte und der Frage sind: Wessen Stadt ist die Stadt: Ich möchte gern, dass wir unseren Baustadtrat in Mitte, Thomas Flierl, ausdrücklich ermutigen. Thomas wehrt sich gegen die Vermarktung und Verramschung der Stadt, gegen die dauerhafte oder zeitweise Privatisierung des öffentlichen Raumes. Ohne ins Detail zu gehen, meine ich: zu recht! Dies um so mehr, da wir es mit durchaus sensiblen Orten zu tun haben.

Ich erinnere nur an das Areal südlich vom Brandenburger Tor, wo das Holocaust-Denkmal entstehen wird. Immerhin hat dies selbst Eingang in die Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und SPD gefunden. Was für mich nicht ausschließt, dass sich Berlins Regierender Bürgermeister weiterhin als Verhinderer versuchen könnte. Noch gibt es Stolpersteine und zu leistendes. Bislang wurde ja nicht einmal über den finanziellen Beitrag entschieden, den der Bund und das Land Berlin beisteuern. Gleichwohl sammelt der Förderkreis um Lea Rosh für das Denkmal, auch morgen wieder, und ich bitte Euch, spendet selbst und helft, möglichst viel Geld zusammen zu tragen. Denn das wäre nicht nur ein finanzieller Beitrag, sondern zugleich ein politisches Bekenntnis für das Denkmal.
(...)

* * *

Unsere 1. Tagung hat im wesentlichen 3 Aufgaben zu erfüllen:
Wir haben die Wahlen vom 10. Oktober und die Wahlkämpfe nach zu bereiten, wir haben unseren politischen Standort im aktuellen Berlin zu bestimmen, und wir haben Weichen für die programmatische Debatte und die Strukturreform zu stellen.

Ich vermeide bewusst das große Wort „Parteireform“. Nicht weil es um wenig, sondern weil es um mehr geht, als die Schaffung eines Präsidiums oder die Abschaffung der 8-Jahreregel für Wahlfunktionen. Denn das spiegelt sich derzeit in den Medien, wenn es um mögliche Statutenänderungen geht, und das war wohl auch die greifbare Quintessenz, als vorigen Sonntag auf einem PDS-Workshop über eine „Parteireform“ gesprochen wurde.

Unsere zentralen Fragen sind: Wie kann die Berliner PDS in der gesamten Stadt gestärkt werden, und zwar als Mitglieder-Partei? Wie können die Arbeits- und Kommunikationsstrukturen verbessert werden? Wie kommen wir zu einer wirksameren modernen Öffentlichkeitsarbeit, und zwar im komplexen Sinne? Wie schaffen wir bessere Bildungs- und Qualifizierungangebote, auch für künftige Abgeordnete? Wie sichern wir verlässliche Einnahmen und effektive Ausgaben? Wie erneuern wir unsere Strukturen, auch im Zusammenhang mit der Bezirksreform, aber nicht nur? Der Fragekatalog ließe sich verlängern. Er ist auch nicht ganz neu - ich erinnere nur an den 2-Jahres-Rahmenplan aus dem Frühjahr 1998.

Jetzt geht es um Antworten und um praktische Schritte. Auch dazu liegen Euch Parteitagsmaterialien vor. Ich beschränke mich daher auf drei Punkte.

1. Zur programmatischen Debatte

Seit wenigen Wochen liegen die programmatischen Thesen vor und damit eine Grundlage für jede Basisorganisation, für jede Arbeitsgemeinschaft oder Interessengruppe, sie gründlich und kontrovers zu diskutieren. Selbstverständlich steht der neue Landesvorstand vor der Aufgabe, darüber hinaus entsprechende Foren anzubieten (wie im Antrag 8 aus Treptow) gefordert. Und ich bitte auch die „Helle Panke“ um entsprechende Angebote.
An zwei Verfahrensfragen möchte ich erinnern. Zum einen handelt es sich bei den vorliegenden Thesen nicht um einen Programm-Text, auch nicht um eine Vorstufe. Sie sind Diskussionsangebote zu ausgewählten Themen.
um zweiten bleibt es dem Parteitag in Münster vorbehalten zu entscheiden, ob das geltende PDS-Programm verändert werden soll oder ob es durch ein neues ersetzt werden muss.
Nun gibt es zu den Mehrheitsthesen aus der Programm-Kommission ein Minderheiten-Votum, das gleichfalls veröffentlicht wurde.
Ich habe damit überhaupt kein Problem, im Gegenteil. Weil ich meine, das die Debatten am klarsten und am frischesten dann verlaufen können, wenn unterschiedliche Positionen kenntlich sind und nicht schon vorher in einem vermeintlichen Konsens verwischt wurden.

2. Zur Strukturreform und zur Öffentlichkeitsarbeit

Drei Anmerkungen anhand konkreter Beispiele:

a) In allen Bezirken wird bereits an bevorstehenden Fusionen gearbeitet. Hie und da, war zu lesen, wird sogar schon öffentlich darüber philosophiert, wer wo künftig Bürgermeister werden könnte oder sollte. Dass es um mehr und um durchaus brisante Probleme geht, wissen wir alle. Es sind aber letztlich eben nicht nur Bezirksprobleme, sondern Fragen des gesamten Landesverbandes.
Es geht um die Frage, ob wir als Berliner PDS nach der Fusion politik- und interventionsfähiger sind, als vordem? Oder ob wir mögliche gesamtstädtische Chancen bezirksegoistisch verspielen.
(...)

b) Zur Öffentlichkeitsarbeit
Wir haben gemeinsam Wahlkampf geführt und ebenso gemerkt, was uns gelungen war und was weniger. Konkret: Ich habe sehr gute Veranstaltungen erlebt, auch in den Bezirken, mit denen wir viele Berlinerinnen und Berliner erreichten, was ja auch ihr Sinn war.
Es gab aber auch etliche Veranstaltungen, die viel Kraft und Geld gekostet haben und doch nur unter dem Motto standen: Sie kannten sich alle, von der letzten Basisversammlung. D. h.: Wir müssen alles, auch das, was in den letzten Jahren zur Tradition geworden ist, auf den Prüfstand stellen. (...) Zugleich haben wir gerade in diesem Wahlkampf einen deutlichen Schritt nach vorne gemacht, im Internet.
In der heißen Wahlkampfphase hatten wir Zig-Tausende Zugriffe täglich Und wir wissen zudem aus dem Bereich Parteileben des Parteivorstandes: 80 Prozent aller Neueintritte erfolgen derzeit über das Internet. Was ja nur heißen kann: Dort, wo die neuen Medien noch nicht im Blick der Öffentlichkeitsarbeit sind, müssen wir schleunigst nachziehen. (...) Also insgesamt:
Herkömmliches auf seine Wirkung überprüfen und neues wagen.
(...)

c) Zu den Struktur-Defiziten unserer Partei gehört auch das anhaltende "Jugendproblem", das natürlich weniger Jugendproblem,
als vielmehr ein PDS-Problem ist. Ich freue mich, dass sich in diesem Jahr, auch in Berlin, ein PDS-naher Jugendverband gebildet hat - solid. Ich finde es genauso richtig und wichtig, dass sich am 1. Dezember junge Genossinnen und Genossen der Berliner PDS - über Bezirksgrenzen hinweg - zu gemeinsamer Arbeit zusammengefunden haben und dies auch künftig so wollen. Beides brauchen wir, zumal beide, der Jugendverband und die jungen Mitglieder der PDS, sich in ihren Zielen und Konzepten nicht ersetzen, sondern ergänzen.
(...)

3. Wir haben mit den Wahlen am 10. Oktober einen nicht zu unterschätzenden Schritt nach vorn gemacht - beim weiteren Westaufbau. Oder anders gesagt: Wir haben uns neue Chancen erarbeitet. Wir sind nicht nur angekommen, wir sind wahr- und ernstgenommen worden, und wir haben in 8 BVV Sitz und Stimme.
Gerade unseren Bezirksverordneten, ob in Neukölln oder Wedding, ob in Kreuzberg oder hier in Schöneberg, möchte ich viel Erfolg und gute Nerven wünschen. Wir werden Euch nicht allein lassen,
nicht als Landesverband, und ich meine, erst recht nicht in den Bezirken. (...)
Der Westaufbau bleibt - stellvertretend für die Gesamt-PDS - unser Pilotprojekt. Das ist keine Drohung, sondern eine neue Aussicht für die Stadt. Vor zehn Jahren war der Begriff "Sozialismus" ein Schimpfwort, heute ist er zunehmend gefragt: Nicht als Wiederholung, sondern als demokratische Perspektive. Auch das gehört zum Resümee nach zehn Jahren PDS.
 

 

 

11.12.1999
www.petra-pau.de

 

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