Ost und West wachsen zusammen
Ansprüche, Verheißungen und Realität

Aus einem Vortrag mit Diskussion
auf Einladung des „Baden-Baden-Unternehmer-Forum“ in Berlin, am 17. September 1999

1. Warum wollen "Wessis" die Mauer wieder haben?

Vorab gebe ich Zweierlei zu bedenken:

Erstens umfassen 40 Jahre Teilung plus inzwischen fast zehn Jahre „Vereinigung“ das Leben und die Erfahrung von zwei bis drei Generationen. Ein halbes Jahrhundert also, das längst nicht alle Geheimnisse offenbart hat. Zu den nicht abschließend geklärten Fragen dieses Jahrhunderts gehören für mich auch die deutsche Teilung, ihre Wirkungen und Folgen, ihre weltgeschichtliche Einordnung. Denn obwohl die Ausgangspunkte und Ergebnisse für viele klar scheinen, sind beispielsweise die Akten des MfS - soweit sie nicht durch BND, CIA oder KGB vorher „ruhig-gestellt“ wurden - verfügbar, ebenso das Parteien- und Regierungsarchiv der DDR. Aber der kalte Krieg hatte mindestens zwei Seiten und Akteure, und so bleibt natürlich zu fragen: Was ist mit den Akten von CIA, KGB, BND usw.?

Zweitens haben 40 Jahre Teilung und Leben in unterschiedlichen Systemen auch unterschiedliche Denk- und Verhaltensweisen, Erfahrungen und Erwartungen hervorgebracht, und vor allem zwei Wertesysteme geprägt. Ich werde darauf zurück kommen, weil die Missachtung dieses Befundes nicht nur meiner Meinung nach ein Kardinalfehler bisheriger Einheits-Politik ist.

Gleichwohl, und auch das sei vorangestellt:
Die Einheits-Chance kam 1989/90 zwar überraschend - für Ost und West - aber die Einheit an sich war mehrheitlich gewollt und somit ein grundsätzlich ein demokratisch legitimierter Einschnitt. Der Bundesverband deutscher Banken ließ dazu 2012 Ost- bzw. West-Deutsche zwischen dem 3. und 7. Mai 1999 befragen. Aus den vorgelegten Antworten geht hervor: 81 % West und 84 % Ost waren 1990 für die Vereinigung. Heute, im 99er Rückblick, finden sogar 87 % West und 91 % Ost, dass die Vereinigung richtig war.

In dieser Wichtung unterscheiden sich das PDS-Klientel und die PDS als Partei übrigens nicht von der allgemeinen Auffassung, was durch das Programm und durch entsprechende Umfragen belegbar ist. Andere Umfragen (s. Sozialreport / Hans- Böckler- Stiftung) heben sogar hervor, dass „der Anteil der Westdeutschen, die die DDR wiederhaben möchten, wesentlich höher liegt“, als bei Ostdeutschen.

2. „Vergewaltigung in der Ehe“?

Eine nicht minder wichtige Frage hat der Bundesverband deutscher Banken nicht gestellt - oder zumindest nicht veröffentlicht: „War der Vereinigungs-Prozess politisch-konzeptionell so angelegt, dass er wirklich auf Vereinigung zielt?“ Nicht ohne Grund sieht die begleitende Sozialforschung den deutschen Vereinigungsprozess als einmaliges „Experiment der Angleichung sozialer und wirtschaftlicher Lebensbedingungen zweier Bevölkerungen“. (Vgl. Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995)

Wenn es sich aber um ein „Experiment“ handelt, und zwar um eines, an dem Millionen Menschen teilhaben, zumindest aber von ihm betroffen sind, dann sollten nicht nur Ambitionen, dann müsste auch Psychologie im Spiel sein und die Fähigkeit, Fehler zu erkennen und offensichtliche zu korrigieren.

Aus meiner Sicht gab es mehrere Fehler, drei gravierende seien benannt:
a. Das ohne Not durchgesetzte Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“;
b. Der politische Missbrauch des Rentensystems als Straf-„Recht“;
c. Die Verweigerung einer gesamtdeutschen Verfassungs-Gebung. Zudem bleibt weiterhin umstritten, ob der gewählte Beitritt der DDR zur Bundesrepublik unausweichlich war oder ob ein gleichberechtigtes aufeinander Zugehen nicht besser gewesen wäre. Das Grundgesetz und die PDS sprachen für Letzteres.

Auf einen weiteren Kardinal-Fehler machte emnid in einem Kommentar ihrer Umfragen-Befunde zwischen 1990-97 aufmerksam: „Weiterhin rächt sich, dass Bonn die Bundesbürger in einem zweifachem Irrglauben ließ: Die Westdeutschen, die Einheit sei umsonst zu haben; deshalb weigern sie sich nun (1997) die fälligen Rechnungen zu akzeptieren. Die Ostdeutschen, die Einheit sei dem Westen lieb und teuer - und nicht zu teuer.“

Eine andere Ebene, die das historische "Experiment" belastet, beschreibt Klaus Schlesinger, 1937 in Berlin geboren, Schriftsteller, kritischer Zeitgeist, 1979 aus politischen Gründen aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen, nach Berlin-West über gesiedelt und 1991 nach Berlin-Prenzlauer Berg, also in den Osten, zurück gekehrt. 1993 schrieb Schlesinger unter der Überschrift „Sehnsucht nach der DDR?“:

„Das einzige, was mich im Moment herausfordern kann, ein paar Sätze über die verschwundene DDR zu verlieren, ist mein Trotz. Ich kann es einfach nicht mehr hören, wenn mir geleckte Affen aus den talk-shows erklären wollen, wie ich dreißig Jahre lang gelebt habe und warum es sich nicht gelohnt hat. Einige von ihnen habe ich in der Zeit, als es noch 25 Westmark kostete, unser ärmliches Ländchen zu betreten, bei Lesungen in Frankfurt/Main, Bremen oder Rheda-Wiedenbrück kennengelernt. Die Ehrlicheren haben wenigstens zugegeben, dass sie die Sahara mehr interessiert als die DDR. Jetzt wollen sie in Berlin den halben Osten abreißen. Zugegeben, er ist nicht besonders schön, aber verglichen mit dem Monstrum am Funkturm, das sie Kongreßzentrum nennen, ist der Palast der Republik, den ich zu DDR-Zeiten schon aus Protest nicht betreten habe, ein architektonischer Lichtblick. Und öder als An der Urania oder am Ernst-Reuter-Platz sieht es am Alexanderplatz auch nicht aus. Wir werden doch mal fragen dürfen, warum sie mit dem Abreißen nicht bei sich anfangen.“

Das Buch, aus dem ich zitiere, heißt: „Von der Schwierigkeit Westler zu werden“. Schlesinger, zehn Jahre länger „Westler“ als ich, fragt, warum „sie“, die Westler, nicht bei sich anfangen abzureißen, was unzeitgemäß scheint.

Der Einwurf mag angesichts dessen, dass in Berlin sichtbar auch aufgebaut wird, sperrig sein. Doch es hat nicht nur eine - wie es neudeutsch heißt - mentale Substanz. „Wer reißt was und warum ab, um dieses oder jenes und vor allem auf wessen Kosten aufzubauen?“ Das ist eine symbolische und zugleich auch eine praktische Einheitsfrage. Denn warum wurden beispielsweise die Polikliniken der DDR dem Gesundheitssystem der BRD geopfert - abgewickelt und abgerissen - um nun, knapp ein Jahrzehnt später, deren Güte zu loben und über ihren Wiederaufbau nachzudenken? Das ist nicht nur eine Frage, die sich im Osten stellt. Es ist eine Frage, die dem Westen fehlte, um sich wirklich mit der Einheit zu identifizieren, die ihm signalisiert hätte: Ich will nicht nur die Einheit, ich könnte von ihr auch etwas haben, was mir als Bayer oder Friesländer bislang im alltäglichen Leben fehlte.

Schlesinger flüchtet in trotzigen Sarkasmus. Sein Aufsatz endet mit den Sätzen:

„Inzwischen muss dem letzten Ignoranten zwischen Weserbergland und Schwäbischer Alb klargeworden sein, was die Vereinigung eigentlich war: eine Geldheirat. In der Hochzeitsnacht mag es ja einige Orgasmen gegeben haben. Heute, zweieinhalb Jahre danach, scheint mir der Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe weitgehend erfüllt. Besserung ist nicht in Sicht. Aus dem ganzen Schlamassel führt vielleicht nur ein Weg. Der Westen müsste die moralische Größe aufbringen und die DDR noch einmal völkerrechtlich anerkennen. Sozusagen posthum, und mit allen Konsequenzen. Das könnte den Leuten, die im Osten geblieben sind, vielleicht das wiedergeben, was ihnen tagtäglich genommen wird: ihre Geschichte. (...) Ernsthaft, ich habe gar nichts mehr gegen unseren Beitritt. Kopfschmerzen macht mir nur, dass wir nie wieder austreten können.“

Vor dem Hintergrund dieser kritischen Anmerkungen halte ich zugleich erinnernd fest: Die PDS war seit dem Spätwinter 1990 für die deutsch- deutsche Vereinigung. Markant war die Forderung Hans Modrows nach seinem Moskau-Besuch: „Deutschland einig Vaterland!“ Allerdings wollte die PDS einen anderen Weg als den inzwischen gegangenen. Wir wollten Vereinigung statt Beitritt.

3. Erst Euphorie, dann Vulkan

Von den Ostdeutschen wurden in den zurückliegenden Jahren drei grundlegende Dinge verlangt, von denen die Altbundesbürger kaum berührt wurden:

a) 

Sie hatten ihr Berufs- und Gesamt-Leben unter völlig veränderten Rahmenbedingungen neu zu ordnen;

b) 

Sie hatten sich der „väterlichen Bevormundung“ durch eine westgeprägte Politik unterzuordnen, und zwar möglichst dankbar;

c) 

Sie hatten anzuerkennen, zumindest aber zur Kenntnis zu nehmen, dass ihr bisheriges Leben zwischen „nutzlos bis verbrecherisch“ eingeordnet wurde.

Was für viele Neubundesbürger übrigens zu einer schizophrenen Situation führte: Einerseits wurde und wird von ihnen erwartet, dass sie sich den neuen Verhältnissen möglichst kritiklos anpassen, und zugleich wird ihre eigene Entwicklung bis 1990 als kritiklose „Anpassung“ verurteilt. Was Wunder, wenn emnid folgerichtig ermittelte, dass sich Ostdeutsche als zweitklassig (behandelt) fühlen.

Natürlich ist dieser emnid-Befund anzuzweifeln. Denn es gibt so wenig „den Ostdeutschen“ wie es "die Westdeutschen" gab. Aber es steckt ein ernst zu nehmender und auch nachvollziehbarer Kern darin. Der Befund hat materielle Gründe und er beruht auf substanziellen Erfahrungen, die emnid zu dem Schluss führt: „Tatsächlich hatten die Ostdeutschen wohl nie eine richtige Chance, schnell zu gleichwertigen Deutschen zu werden.“

Ich kommentiere jetzt nicht, was in der Formulierung „gleichwertige Deutsche“ alles positiv oder negativ stecken kann. Ich möchte nur anhand von vier Beispielen illustrieren, woher tiefe Ost-Verletzungen rühren könnten, obwohl das Lehrstück doch eigentlich „Zusammenwachsen von Ost und West“ heißt.
Die Beispiele sind nicht zufällig gewählt. Sie gehören zum allgemeinen Erfahrungsschatz in den NBL und sie belegen, wie Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen. Sie mögen einwenden, das sei doch immer so. Nur bitte ich Sie nicht zu vergessen: Die Generalkritik an der DDR, vor allem von links, war gerade jene offensichtliche Differenz zwischen sozialistischen Verheißungen und banaler Realität.

Nun zu den angekündigten Beispielen, die aus Ost-Sicht wahrscheinlich, nein sicher, tiefer wirken als aus westlicher Beobachtung.

a) 

Bischofferode, 1992/93:
„Bischofferode“ gilt als Synonym dafür, wie ostdeutsche Konkurrenz durch westdeutsche Unternehmen (BASF) liquidiert wurden.
Bischofferode war ein Kali-Werk im Eichsfeld mit vollen (internationalen) Auftragsbüchern und, wie Experten sagen, mit einer besonderen Kali-Qualität. Trotz Hungerstreik der Belegschaft und „ost“-weiten Solidaritätsbekundungen wurde Bischofferode dichtgemacht.

b) 

„Vulkan“-Werft:
Der Vulkan-Skandal gilt als Synonym dafür, wie Fördermittel, die für den Osten gedacht waren, direkt in die Altbundesländer (Bremen) umgeleitet wurden. Der Fall wird derzeit vor Gericht verhandelt. Der Schaden für das „Zusammenwachsen“ ist nicht in Geld messbar.

c) 

Opel-Werke Eisenach:
Das Eisenacher Opel-Werk gilt als Synonym dafür, dass Produktivitäts-Lohn-Relationen für den Osten nicht gelten. Das Opelwerk ist derzeit das produktivste Automobilwerk Deutschlands. Davon unberührt liegen die Löhne - wie im Osten noch immer üblich - ca. 20 % unter West-Niveau.

d) 

Das Lehrer-Urteil von Niedersachsen (1998):
Es gilt als Synonym dafür, dass für den Osten reicht, was im Westen nicht tragbar sei. Eine erfahrene Lehrerin aus den NBL hatte sich um ein Lehramt in den ABL beworben, was ihr ohne Weiterbildung verwehrt wurde. Die eigentliche Botschaft des Urteils hieß: Kinder in den NBL dürfe sie unterrichten, Kinder in den ABL jedoch nicht.

Dies sind Beispiele, die verdeutlichen können, warum emnid zu dem empirischen Schluss kommen musste, dass sich Ossis häufig als Deutsche zweiter Klasse fühlen. Viele fühlen sich so behandelt und sie wurden es vielfach auch.

Ich bitte einen weiteren grundsätzlichen Aspekt zu bedenken, der Schieflagen im Vereinigungsprozess erklären mag: Die wirklich gravierenden Veränderungen fanden alle im Osten statt. Die Steuerungs- und Definitionsmacht aber, bis hin zu den Medien, lag beim Westen.

Dies alles sei geschildert, um Dreierlei zu illustrieren:
a) warum der Osten aus Westsicht „anders tickt“,
b) warum aus anfänglicher Vereinigungseuphorie vielfach Frust wurde,
c) warum die PDS in den NBL eine 20-%- Partei wurde. Nicht wegen ihrer SED-Vergangenheit, sondern weil die PDS zunehmend als selbstbewusster, kritischer und oft einzig-wahrnehmbarer Anwalt für Ost-Interessen angenommen wurde, und sei es als Protest-Bote (emnid).

Die PDS, das bestätigen zunehmend auch Parteienforscher, ist vor allem ein Produkt der Wende- und Vereinigungszeit. Was sich auch an Zahlen und Daten ablesen lässt. Der PDS-Trend (im Osten) war 1990-92 negativ, er kehrte sich 1992-94 um und zeigt seit 1995 aufwärts. Im selben Zeitraum weisen Sozialanalysen ein Umdenken oder -fühlen der Bürgerinnen und Bürger in den NBL nach.

Damit modifizierte oder korrigierte sich auch die Bewertung der Bundesrepublik in den Neuen Bundesländern, oder schlichter gesagt, die Sichten auf „Sozialismus“ und „Kapitalismus“. Hierzu veröffentlichte „Allensbach“ eine vergleichende Umfrage. Demnach assoziierten die Bürgerinnen und Bürger in den NBL 1990 mit dem Begriff „Kapitalismus“ vor allem „Profit, Unternehmergeist, Tüchtigkeit, Fortschritt, Wirtschaftskrisen und erfolgreich“.
1995 indes reihten sie „Profit, Unternehmergeist, Tüchtigkeit, Wirtschaftskrisen, Ausbeutung, Klassenkampf“. Die Umfrage hat „Allensbach“ gemacht, nicht die PDS. Der Befund aber sagt zumindest eines: Die vorwiegend positive Beschreibung der Bundesrepublik ist einer zumindest kritischen gewichen.

Dies mag eine zweite Erklärung dafür sein, warum eine systemkritische Partei, wie die PDS, auf wachsenden Zuspruch stieß - im Osten der Republik.

4. Manifest oder Chefsache?

Rolf Reißig, Sozialwissenschaftler und Analytiker des Vereinigungsprozesses, betont, dass „gesteuerte Großprojekte immer Risiken und Brüche beinhalten und dass die ursprünglichen Intentionen der Akteure sich meist nicht oder nur partiell realisieren“, was nicht überraschen dürfe und auch auf den ostdeutschen Transformationsprozess zutreffe. „Erklärungsbedürftig aber“, so Reißig, „sind die diesem Transformationsmodus entspringenden Ambivalenzen insoweit, als sie heute die ostdeutsche Teilgesellschaft nachhaltig prägen und die gesamtdeutsche Bundesrepublik tangieren.“ Reißig konstatiert 1999, dass „die Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland noch so grundlegend (sind), dass sie zwei Teilgesellschaften konstituieren.“ Er spricht von „zwei separaten Wirtschaftsräumen, zwei unterschiedlichen Parteienteilsystemen, zwei unterschiedlichen Kultur- und Kommunikationsräumen.“ Reißig widerspricht damit der Erfolgspropaganda schöner Wahlplakate, er ist Wissenschaftler, nicht Politiker, und Reißig deutet auch an, warum es weder sachlich, noch werbend etwas bringt, einfach zu sagen. „Der Osten ist jetzt Chefsache!“ (SPD)

Die PDS hat 1998 ein "Rostocker Manifest" verabschiedet. In den Medien wurde es schnell als „Rückfall in den Osten“ abgestempelt. Doch in seinem Wesen und in seinem Gehalt ist es das Gegenteil, nämlich ein politisches Angebot für die Vereinigung, das von drei Prämissen ausgeht:
a) Die anhaltenden Unterschiede zwischen Ost und West dürfen nicht länger ignoriert werden. Tragfähige Strategien zur Vereinigung müssen sie vielmehr positiv annehmen und aufheben.
b) Die im Osten drängenden Fragen sind zu großen Teilen im Westen verdrängte Probleme.
c) Gelingt es, im Osten neue Antworten auf insgesamt anstehende Fragen zu finden, dann erhalten die Neuen Bundesländer einen bundesweiten Gebrauchswert. Misslingt dies, so zieht es auch die Alt- BRD in den Strudel.
Das „Rostocker Manifest“ folgt also einem gesamtdeutschen Ansatz mit europäischem Blickwinkel.

5. Was Willi Brandt wirklich sagte

Berlin ist noch immer zweigeteilt, wie die Bundesrepublik auch. Dabei sollte doch „nun“ zusammen wachsen, was zusammen gehört (Zitat Willy Brandt - 1990). 1999 bleibt zu fragen: Was hieß oder heißt „nun“, also über welchen Zeithorizont reden wir? Die mich mehr bewegende Frage ist: Wer versteht was unter „Zusammenwachsen“, also um welche Inhalte geht es?

Ich rufe Willy Brandt nicht als Zitatenspender in eigener Sache auf, sondern um ihm gerecht zu werden. Denn sein am 4. Oktober 1990 im Bundestag geäußerte Gedanke hieß vollständig:

„Die wirtschaftliche Aufforstung und die soziale Absicherung liegen nicht außerhalb unseres Leistungsvermögens. Die Überbrückung geistig-kultureller Hemmschwellen und seelischer Barrieren mag schwieriger sein. Aber mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammen wächst, was zusammengehört.“

Im Kern ist das - gern verkürzte - Zitat eine Warnung, das Zusammenwachsen nicht auf materielle Fragen zu reduzieren. Womit ich zu einem weiteren Kardinalfehler der Anschlusspolitik komme: Der Osten würde wie der Westen, so das Kohl'sche Versprechen. Und das „Ossi“ müsse werden, wie das „Wessi“, so eine allgemeine Forderung. Das erste ist nicht eingetreten, das zweite ist nicht machbar, übrigens auch nicht anzustreben.

Niemand würde ernsthaft mit dem Versprechen werben, Friesland müsse bayerisch werden, die Friesen selbstverständlich auch. Das ist die gern genommene Talk-Show-Antwort, die vor allem von „verständnisvollen“ West-Politikern, à la Vogel und Biedenkopf - beide CDU - gegeben wird.
Die weitergehende Frage aber ist: Gibt es nach 40 Jahren Teilung so etwas wie Ost- und West-Identitäten, die man nicht ungestraft ignorieren darf und die etwas anderes, die mehr sind, als die Unterschiede zwischen Schwaben und Franken?

Ich biete Ihnen zwei Denk-Vorschläge und eine Prämisse an:

a) die Prämisse:
Ost-Deutsche kennen aus eigenem Erleben 2 1/2 Systeme - die DDR, die Bundesrepublik und dazwischen die Wendezeit, eine Zeit, wo sie wirklich etwas bestimmen/bewegen konnten oder zumindest das Gefühl hatten.
Wenn Umfragen heute meinen, Ostdeutsche würden die parlamentarische Demokratie weniger schätzen als Westdeutsche, dann darf dabei dieser Erfahrungs- und Erwartungshintergrund der Ostdeutschen nicht ausgeblendet werden. D.h., der nachwirkende Be-Wertungshorizont der „Ossis“ ist anders als der von „Wessis“.
Zudem ergeben Umfragen, dass rund 2/3 der ehemaligen DDR-Bürger die alten Bundesländer „erforscht“ haben, aber nur 1/3 der Alt- BRD- Bürger die neuen Bundesländer „besucht“ hätten.

b) zu Bedenken
In Ost und West haben sich über die Jahrzehnte zwei unterschiedliche Werte-Prioritäten herausgebildet. Diese sind weder per Dekret aufzulösen, noch über Nacht anzugleichen. Im Osten stehen gesellschaftliche Werte wie Gemeinsinn, Solidarität, Gerechtigkeit höher im Kurs, als im Westen. Im Westen wiederum spielen Werte wie Individualität, Selbstverwirklichung und individuelle Freiheit eine größere Rolle. Jeweils nicht absolut, aber relativ.

Dr. Dittmar Wittich, der sich seit 1990 um soziologische Fakten und Ost-West Erklärungsmuster müht, kommt 1999 zu folgender Analyse:
„Die deutsch-deutschen Unterschiede und die deutsch-deutschen Vorbehalte sind manifest und werden regelmäßig empirisch gemessen. Auf die Frage, ob der Westen oder der Osten mehr Vorteile von der Vereinigung habe, sagten 1998 im Westen 84 %, das sei der Osten, und im Osten sagten umgekehrt 75 %, das sei der Westen. Die Bezugsebenen, von denen aus die Wertung erfolgt, sind jeweils verschieden. Die Westdeutschen meinen, die Transferleistungen, den gestiegenen Wohlstand, den Zugewinn an Komfort und Freiheit der Ostdeutschen und ihrer Familien. Ihre Bezugsebene sind die Individuen.
Die Ostdeutschen haben hingegen die Umverteilung von Eigentum, den Zuwachs an Macht und Einfluss des Staates Bundesrepublik Deutschland und seiner Eliten im Blick. Ihre Bezugsebene ist gesellschaftlich...„

Deshalb meine ich:
Wer Zusammenführen will, darf nicht eindimensional denken, sondern muss Ost und West jeweils kritisch aufnehmen, darf nicht den eigenen Ideologien, gar Slogans verfallen, und darf Zusammenwachsen nicht mit Gleichmachen verwechseln.

6. Marx und die eigentliche Wende

Das eigentliche politische Dilemma, das sich aus einer nachholenden Anschlusspolitik ergibt, ist ein doppeltes:
a) hat es bundesoffiziell nie ein tragfähiges, modernes Konzept für den Aufbau-Ost gegeben.
b) hat die Mär von den „blühenden Landschaften“ nach westlichem Vorbild unterstellt, die Alt- BRD wäre auf der Höhe der Zeit.

Wenige Zahlen zur Illustration:
Berechnungen ergaben, dass die Aufbau-Leistungen Ost sich vor allem in klingender Münze West niedergeschlagen haben, als Subventionen für Großunternehmen, Handelsketten, Banken usw. Ein Nebeneffekt dessen waren ca. 1,8 Millionen Arbeitsplätze, die im Westen gehalten oder geschaffen wurden. Was auch deshalb von Belang ist, weil die Arbeitslosenzahl-West bereits vor der Vereinigung bei 2 Millionen lag.

Was mir wiederum Karl Marx in Erinnerung ruft und seine Prognose. Und so zitiere ich aus Marx' „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, auch, weil Marx 1990 von westdeutschen Politikern genüsslich zu Grabe getragen wurde, zu früh, meine ich.

„In dem Maße, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit... als von der Macht der Agenzien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden...“
Diese wiederum - die Macht der Agenzien und mit ihr der Reichtum - hängen ab „vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion.“
Der Arbeiter oder der arbeitende Mensch aber „tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein...
Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die Quelle des großen Reichtums zu sein, hört die Arbeitszeit (auf)...sein Maß zu sein.“

Soweit Karl Marx vor 150 Jahren. Seine Prognose wird heute Realität, sie ist in Praxi erlebbar. Wissenschaft und Technik dominieren im rasanten Tempo die Produktion/Arbeit, die Quellen des Reichtums sprudeln mehr denn je, der Mensch tritt neben die Produktion, wirtschaftliches Wachstum und Nachfrage auf dem „Arbeitsmarkt“ haben sich entkoppelt, und die (Erwerbs-)Arbeitszeit hört auf, Maß aller Dinge zu sein.

Diese, sich bewahrheitende Prognose, mit Gefahren und Chancen, verlangt nach neuen gesellschaftlichen Konstrukten. Der „Aufbau- Ost“ konnte in den Altbundesländern kurze Zeit verdecken, was heute zum bundesweiten Hauptproblem geworden ist: die Massenarbeitslosigkeit. Diese ist wiederum Hauptproblemspender für andere Hängepartien. Ich erinnere nur an die Debatten um die Sozialsysteme.

Unabhängig von ihrer unterschiedlichen Effektivität und Verfasstheit hatten die untergegangene DDR und die Alt- BRD eines gemeinsam: Beide waren Produkte des fordistischen Wirtschaftssystems. So gesehen ist die These, die DDR sei untergegangen und die Bundesrepublik lediglich übrig geblieben, mehr als ein geflügeltes Wort. Und wäre es so, dann steht die eigentliche Wende noch bevor.

7. Hintze, Club of Rome und andere Systemkritiker

Über die Krise der Politik sprechen viele, sofern sie nicht die eigene Politik meinen. Die eigene ist immer alternativlos. Über eine Systemkrise wird seltener gesprochen und wenn schon, dann mit unterschiedlichen Folgen und Zielen.

Die PDS spricht offen darüber (s. Programm). Der CDU gilt das als Beleg dafür, dass die PDS verfassungsfeindlich sei. Insofern erinnere ich gern an eine Parteitagsrede von Ex-CDU-Generalsekretär Hintze aus dem Herbst 1996.
Darin klagte er über die Systemkrise und forderte unter Beifall den - Zitat: „systematischen Umsturz aller Verhältnisse“. Was für die CDU wiederum als Beleg dafür galt, eine Reform- und Zukunftspartei zu sein. Soviel zum Thema: Maßstäbe in der Politik.

Richtig ist - meine ich - wir haben es mit einem Umsturz aller Verhältnisse zu tun. Der Club of Rome schreibt in seinem Bericht von 1991 „Die globale Revolution“:

„Wir sind überzeugt, dass das Ausmaß dieser Veränderungen zu einer großen Revolution auf globaler Ebene führen wird.“

Die politisch interessante Frage ist: Lässt sich die globale Revolution steuern, regulieren, oder: Steuert, reguliert sie sich selbst, beispielsweise über den Markt? Oder behält gar der Club of Rome recht, wenn er sagt:

„Wir leben... auf einem kleinen Planeten, den zu zerstören wir offenbar wild entschlossen sind.“

Alle diese Fragen stelle ich bewusst unter die Überschrift „Zusammenwachsen OST-WEST“, weil es sich dabei nicht um ein regionales Ereignis handelt, sondern um einen Teil globaler Herausforderung, der sich nicht nach dem Motto lösen lässt: „Werde Du, Osten, so wie wir, der Westen, und alles wird schön!#147;

8. Besser-Wessi, Jammer-Ossi?

In den Medien wird der Vereinigungsprozess zumeist auf einer anderen Ebene behandelt, egal ob in Kommentaren oder Glossen. Das beliebte Thema heißt: Besser-Wessi contra Jammer-Ossi? Ein „Ost“-Spruch heißt: Es war nicht alles schlecht! Ein West-Gefühl meint: Wir waren schließlich besser! Das Ossi spricht vom Besser-Wessi, das Wessi vom Jammer-Ossi. Beide zahlen sie den „Soli“ und beide glauben, sie würden geschröpft.

Allerdings gibt es auch hier ernste politische Hintergründe, die zu wechselseitigen Vorbehalten führen, bzw. diese bedienen. Eine Schlüsselfrage sind die sogenannten West-Ost-Transfer-Leistungen, ihre Höhe wird unterschiedlich beziffert.
a) Die Bundesregierung gab im September 1996 für den Zeitraum 1991-1996 einen Wert von etwa 900 Mrd. DM netto an, also jährlich ca. 150 Mrd. DM.
b) Die Deutsche Bundesbank schrieb in ihrem Monatsbericht 10/1996: „...insgesamt dürfte sich der Umfang der speziellen Leistungen für die neuen Bundesländer 1995 auf eine Größenordnung von 50 Mrd. Mark belaufen haben.“ Wohlgemerkt, „die speziellen Leistungen“, also nicht jene, die den Alt-Bundesländern auch zufließen. Zum selben, also niedrigeren Ergebnis als offiziell gehandelt, kam im April 1996 die damalige Finanzministerin von Mecklenburg Vorpommern (Bärbel Kleezehn, CDU).

50 oder 150 Mrd. Mark sind nicht nur ein finanzieller Unterschied, es geht zugleich um politische und psychologische Fragen. Die Berliner CDU argumentiert gern damit, die außerordentlich hohe Landesverschuldung wäre Ausdruck ihres Aufbau-Ost-Programms - durch das in der Tat viel getan wurde. Auch auf Bundesebene wird der Anstieg der Verschuldung der öffentlichen Hand allzu gern, aber genauso falsch, allein mit den neuen Bundesländern begründet. Wenn aber die Deutsche Bank recht hat, dann kann der Osten nur bedingt am Schuldenberg beteiligt gewesen sein. Ganz zu schweigen von den Fördergeld- und Eigentums- „Transfers“ Ost nach West.

Worum es mir geht, ist, dass die politischen Ursachen für den Riesenschuldenberg keinesfalls allein mit Vereinigungs-Kosten zu begründen sind, jedenfalls nicht nur und nicht entscheidend. Angelastet werden sie im öffentlichen Bewusstsein aber den NBL, wo das „Ossi“ sich obendrein undankbar zeige. Zu den psychologischen Folgen schrieb die FAZ am 15. 01. 1997 unter Berufung auf Allensbach: Demzufolge hätten 75 % der West-Deutschen den Eindruck, die Transferleistungen seien zu hoch und 57 % vermuteten, dass die Probleme der Bundesrepublik daher kämen, dass die alten Länder zuviel an die neuen zahlten.

Nahezu kriegerische Ausmaße nimmt die allgemeine Fehlinformation an, wenn den neuen Länder gedroht wird: Wählt ihr die falsche Partei, drehen wir Euch den Geldhahn zu. Eine naheliegende Folge solcher Praxis ist: Es mehren sich Zweifel an der (so erlebten) Demokratie. Ich kann daher nur appellieren:
Wer zusammenführen will, muss Ehrlichkeit walten lassen und alles unterlassen, wodurch Ossis und Wessis sich gegeneinander gesetzt fühlen.

9. Berlin, doch „besondere politische Einheit“?

Da Sie sich Berlin als Tagungsort gewählt haben, seien der Stadt noch einige Gedanken zum Thema gewidmet - kein Geschichts-Exkurs, sondern Überlegungen zu Gegenwart und Zukunft.

a) Berlin gilt als „Werkstatt der Einheit“. Zu Recht, denn nirgendwo prallen Ost und West so aufeinander. Nirgendwo ist die Ost-West-Durchdringung so fortgeschritten. Und nirgendwo werden die Probleme erfahrbarer, als hier.
Auch deshalb war der Umzug von Bundesregierung und Bundestag prinzipiell richtig.

b) Berlin Ost wie West haben Ähnlichkeiten. Beide wurden in der Systemauseinandersetzung „staatlich aufgepäppelt“, subventioniert. Auch deshalb könnten Berliner Alternativen Beispiel für grundsätzliche Umbau-Programme geben - sie könnten.

Übrigens: Wenn sich Berlinerinnen und Berliner als „Verlierer der Einheit“ klassifizieren lassen, dann sind oder waren es vor allem zwei Gruppen: Frauen, die aus dem Arbeitsprozess gedrängt wurden, insbesondere im Osten, und Westberliner abhängig Beschäftigte, denen alle Berlin-Zuschläge gestrichen und denen damit Netto genommen wurde. Hinzu kommen ältere Arbeitnehmer-West und jüngere Arbeitssuchende- Ost.

c) In Berlin sind zwei politische Strukturen in einem Land erfahrbar. Vereinfacht gesagt: Die CDU dominiert im Westen, die PDS im Osten.
Hinzu kommen unterschiedlich gewichtet die SPD sowie Bündnis 90/Die Grünen. FDP findet eigentlich nicht statt, außer bei der FDP.
D.h. das, was durch die Bundestagswahlen 1998 und nunmehr durch die jüngsten Landtagswahlen für die Bundesrepublik insgesamt bestätigt wurde, findet sich hier in einer Stadt wieder.

d) Berlin ist politisch gespalten, obwohl die sozialen Probleme längst anderen Linien folgen. Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit liegt bei 15 %, also auf dem Niveau der Neuen Bundesländer. Seit 1992/93 ist sie aber im Westteil höher, als im Osten. Die durchschnittliche Steuerlast wiederum ist im armen Kreuzberg oder im bunten Prenzlauer Berg höher, als im reichen Zehlendorf.

e) Berlin ist in manchen Vereinigungsfragen weiter, als die Rest- BRD. Allerdings nur, weil es sich ob des offensichtlichen Problemdrucks gegen den Bundestrend stellte. So wurden 1995 die Löhne im öffentlichen Dienst weitgehend angeglichen, 1999 die Ost-West-Tarife bei Beamten.

f) Berlin ist aber auch exemplarisch für widerstrebende Grundphilosophien darüber, was Zukunft verheißen könnte. Entweder „Standort Deutschland-Logik“ oder nachhaltige „Politik des 21. Jahrhunderts“.

10. Der kalte Krieg muss beendet werden

Zum „Zusammenwachsen Ost-West“ gehören natürlich Fragen, die im politischen System angesiedelt sind. Zwei grundsätzliche stehen auf der Agenda, meine ich, eine dritte will ich nicht nur in eigener Sache benennen.

Die weggedrückte Verfassungsfrage stellt sich inzwischen im EU-Kontext. Außerdem gehört das föderale System auf den Prüfstand. Auch das hat etwas mit dem Thema „Zusammenwachsen von Ost und West“ zu tun. Schließlich auch der Umgang mit der PDS. Zu letzterem einige wenige Anmerkungen:

Im Umgang mit der PDS gab es verschiedene Muster. Das erste hieß: Einfach ignorieren, die PDS erledigt sich ohnehin von selbst, notfalls muss man nachhelfen. Die Treuhand und andere Institutionen haben es versucht - vergeblich.
Das zweite Muster, spätestens seit dem „Magdeburg Modell“ und der PDS-Regierungsbeteiligung in „Schwerin“, lautet: Partiell als Landesbesonderheit anerkennen und möglichst Ѭentzaubern“, bundespolitisch die PDS aber weiterhin links liegen lassen. Parteipolitisch könnte ich mich sehr wohl in die Gedankenwelt von CDU- oder SPD-Strategen versetzen. Vielleicht würde ich dann zu ähnlichen Überlegungen kommen. Was nichts daran ändern würde, dass sie gesellschaftspolitisch falsch sind.

In Berlin hat die „PDS-Frage“ eine besondere Bedeutung. Die PDS ist im Osten stärkste Kraft. Hier stellt sie unter anderem vier Bezirksbürgermeister(innen) und 32 Stadträte). Im Berliner Westen tendiert die PDS in Richtung 5-% Partei.
Gleichwohl schließen CDU (sowieso), aber auch SPD und in deren Schlepptau Bündnis 90/Die Grünen jede Kooperation mit der PDS aus - bislang, jedenfalls öffentlich und formell. Das hat Folgen, politische und für das Zusammenwachsen.

a) Seit 1995 ist klar, dass ohne oder gegen die PDS keine andere Landes-Konstellation möglich ist, als eine große CDU/SPD-Koalition.
b) Bedeutet eine Ausgrenzung der PDS, dass mit ihr ca. 40 Prozent der Wählerschaft- Ost ausgegrenzt werden, bzw. diese sich ausgegrenzt fühlen.
c) Dies wiederum bedeutet, dass weiterhin versucht wird, die Ost-West-Stadt vor allem westlich zu regieren und zu prägen. Unabhängig von machtpolitischen Überlegungen, steht dahinter immer noch das Leitbild, es gelte den Osten nach Westvorbild zu formen.

Die nachvollziehbare Begründung, die offiziell gegeben wird (SPD u. Bündnis 90/Die Grünen) lautet: „Berlin ist nicht Schwerin oder Magdeburg - Die Mauer stand in Berlin!“ Dieses Argument ist nicht klein zu reden. Nirgendwo hat die 40-jährige Teilung so viele Wunden und Narben hinterlassen wie hier, in Berlin. Deshalb bleibt es auch für die PDS eine vorrangige Aufgabe, sich weiterhin kritisch mit der Geschichte auseinander zu setzen, auch und gerade mit der eigenen.

Ich vertrete aber auch zwei weitergehende Positionen:
a) Wenn es denn stimmt, dass die SED-Ost und die CDU-West die politischen Hauptträger des kalten Krieges auf deutschem Boden waren, dann tragen sie auch eine herausgehobene Verantwortung für das Ost-West-Zusammenwachsen. Jedenfalls werbe ich stark für eine Beendigung des kalten Krieges, vor allem in den Köpfen, und statt dessen für einen Streit der Konzepte.
b) Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer und neun Jahre nach Vollzug der staatlichen Einheit, lässt sich das o. g. Zitat auch anders betonen: „Die Mauer stand in Berlin“. Denn wer jede politische Option in Berlin nur mit dem Verweis auf die Geschichte blockiert, wie die SPD, betreibt rückwärtsgewandte Politik und hemmt letztlich das „Zusammenwachsen von Ost und West“.

Abschließend:
Das Zusammenwachsen hat viele Facetten. Ich habe versucht, einige zu beleuchten, aus meiner Sicht. Daniela Dahn ist eine sehr kritische Begleiterin der deutsch-deutschen Vereinigung. Sie bewarb sich als Parteilose für die PDS im Land Brandenburg als Verfassungsrichterin und wurde von der SPD abgelehnt. Als Schriftstellerin hat sie mehrere Bücher geschrieben und aus ihnen auch in den alten Bundesländern gelesen. In ihrem Buch „Vertreibung aus dem Paradies“ schilderte sie Eindrücke von solchen Gesprächen. Sie schreibt:

„An einer bayrischen Realschule, die seit Jahren einen Austausch mit Frankreich und Großbritannien pflegt, nie aber einen Ausflug nach Thüringen oder Sachsen unternommen hat, kann es einem schon passieren, dass ein Schüler fragt, ob der FDJ-Sekretär der Klasse automatisch immer IM war. Dann kann man zwar nein sagen“, so Daniela Dahn, „man kann es aber auch gleich lassen, weil gegen die Wand solcher mediengefütteter Vorurteile sowieso kein Ankommen ist. So etwas wird einem in Fürth, am humanistischen Heinrich-Schliemann-Gymnasium, kaum passieren. Seit der Wende besteht eine Partnerschaft mit einem Gymnasium in Schneeberg.... Nach meiner Lesung sagt der einfühlsame, sich den Idealen der antiken griechischen Literatur verpflichtet fühlende Oberstudiendirektor:
1990 haben wir geglaubt, dort im Erzgebirge müsse man von uns lernen. Heute wissen wir, wir haben gleichviel voneinander gelernt.“

Ich wünsche mir mehr Daniela Dahns und mehr solche Oberstudiendirektoren. Ich freue mich auf Ihre Fragen und Meinungen.

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17.9.1999
www.petrapau.de

 

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