Die PDS Berlin im Wahljahr 1995

Aus der Rede der Landesvorsitzenden der Berliner PDS, Petra Pau, auf der 5. Tagung des 4. Landesparteitages am 4. Februar 1995

in: Pressedienst Nr.7, Jahrgang 1995

I. „Schaut auf diese Stadt!“

Berlin wurde am Beginn dieser Wahlperiode von den Regierenden zur „Werkstatt der Einheit“ erklärt. Schöne Werkstatt. Da wird gewurschtelt statt gestaltet. Der Mief der großen Koalition, in der die CDU das Sagen hat und die SPD alles abnickt, hat die Nichtwähler zur stärksten Partei in Berlin gemacht.

Das ist die Quittung für die Arroganz der Macht, für die verfilzte Bürokratie, für die Blindheit und Einfallslosigkeit des Senats gegenüber den wirklichen Lebensinteressen der Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt. Genauer gesagt gegenüber den Lebensinteressen des größten Teils der Berlinerinnen und Berliner. Spekulanten, Baulöwen und anderen kleinen radikalen Minderheiten gegenüber zeichnet sich die Politik des Senats durchaus durch Weitsicht und Zuneigung aus.

Das Ergebnis dieser Politik ist offenkundig. Berlin ist im fünften Jahr der Vereinigung noch immer gespalten: ökonomisch wie soziologisch, im Lebensniveau wie in der Lebensweise, im politischen Denken und Handeln. Eine unvoreingenommene, wechselseitige Ausschöpfung der unterschiedlichen Lebens- und Arbeitserfahrungen zum Wohle der ganzen Stadt wurde nie auch nur versucht. Zu viele Politiker der Senatsparteien haben den Helm des Kalten Krieges noch immer nicht abgelegt.

In einigen Punkten allerdings gelang die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Nämlich überall da, wo sie weh tut: Bei der Massenarbeitslosigkeit und der Suche nach bezahlbaren Wohnungen, im Verkehrschaos, und der wachsenden Pro-Kopf-Verschuldung, welche zum Ende dieses Jahrzehnts ins Desaster führen wird. Diese Regierung begünstigt Rechtsextremismus und Fremdenhass. Sie privatisiert ihre staatliche Verantwortung.

Die Bürgerinnen und Bürger in Ost und West sind gemeinsam Opfer dieser Politik und sie werden sich gemeinsam dagegen wehren müssen. Für diesen Widerstand steht auch die PDS.

Wir wollen ein Berlin der Menschen, das allen Bewohnern Existenzsicherheit und Zukunftschancen einräumt, das der Region eine Entwicklung zum gegenseitigen Vorteil ermöglicht und das den Nachbarvölkern Vertrauen und Sicherheit gibt.

II. Eine Wende in der Politik tut not und ist möglich

Die PDS hat zwar keine Macht, aber sie ist auch nicht ohnmächtig. Denn ohne oder gegen uns wird es den überfälligen Wechsel in der politischen Führung der Hauptstadt nicht geben. Wer die Vorherrschaft konservativer Politik brechen will, kommt an der PDS nicht vorbei. Allerdings, auch das gehört zur Realität, kommt die PDS nicht an diesen Bedingungen vorbei, und sie kommt vor allem ihrerseits auch nicht an den vielfältigen Formen des außerparlamentarischen Widerstands vorbei. Nur eine Bündelung der linksalternativen Kräfte innerhalb und außerhalb des Parlamentes kann dem größeren Deutschland eine Hauptstadt geben, in welcher eine andere Politik eine Chance erhält.

Deshalb wollen wir gesellschaftliche Opposition mobilisieren gegen die herrschende Politik. Dies haben auch die anderen Parteien im Lande erkannt. Die Berliner SPD fasste brav ihren Ab- und Ausgrenzungsbeschluss und Frau Stahmer und Herr Momper beeilen sich, fast täglich dem interessierten Vorwahlkampfpublikum zu versichern, dass sie beide unbedingt regieren wollen, aber natürlich ohne die PDS. Da sie auch die Duldung einer sozialdemokratisch geführten Minderheitsregierung durch die PDS kategorisch ablehnen, führt an einer Erkenntnis kein Weg vorbei: Die Politiker der Verweigerung sitzen in der SPD, nicht in der PDS. Wir demokratischen Sozialisten machen seit nun fast einem Jahr unmissverständlich klar: An uns wird die Ablösung der großen Koalition nicht scheitern. Nicht wir verweigern die Zusammenarbeit, sondern die Sozialdemokraten. Nicht die PDS zwingt die SPD in die große Koalition, sondern die Sozialdemokraten blockieren sich selbst.

Die GRÜNEN hätten die demokratischen Sozialisten am liebsten auch weg von der Bildfläche. Sie trauen sich nur nicht, das auch so zu sagen. Sie erklären uns lieber, wie ihr Vorstandssprecher Jürgen Trittin, für nicht koalitionsfähig. Ich denke, das stimmt nicht ganz. Fähig sind wir schon. Die Frage ist nur, ob wir es so wollen, wie sie es sich vorstellen.

Seit dem Sommer 1994 sagen wir deutlich, und ich unterstreiche dies hier nochmals: Die Abwahl der Großen Koalition braucht eine deutliche Mehrheit links von der CDU. Wir präferieren einen rosa-grünen Senat mit einer starken linken Opposition. Dies gilt auch unter der Bedingung, dass SPD und Bündnis 90/Die Grünen nicht die absolute Mehrheit erhalten.

Dies ist noch nicht die Wende, würde aber die Chance dazu eröffnen. Erreichbar ist dies nur, wenn die SPD endlich politischen Reformwillen vor politischen Opportunismus setzt.

Eine Berliner Reformregierung muss neue Prioritäten setzen:
Dazu gehört für mich die sofortige Abkehr von den großen Prestigeprojekten, die aufgaben- und kostenkritische Überprüfung aller städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen und die Einleitung einer Umverteilung der finanziellen, planerischen und organisatorischen Ressourcen der Stadt zugunsten der Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger.

III. Wir sind Opposition

Wenn unser Programm von den Wählerinnen und Wählern auch in Zehlendorf, Spandau und Kreuzberg so honoriert wird, wie heute schon in Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen, müssen wir sicher darüber nachdenken, wem wir die Rolle des Juniorpartners in einer linken Berliner Reformregierung anbieten. Da dies wahrscheinlich am 22. Oktober 1995 noch nicht eintritt, sollten wir darüber nachdenken und erklären, wie wir mit den politischen Realitäten in dieser Stadt umgehen wollen:

Wenn wir durch unser parlamentarisches Stimmverhalten eine Ablösung der Großen Koalition ermöglichen und eine rosa-grüne Minderheitsregierung gegen rechts stützen, bedeutet dies nicht eine Aufgabe unserer Oppositionsrolle. Im Gegenteil: auch eine solche Regierung braucht eine starke Opposition von links, die ihre Unterstützung und Mitarbeit in außerparlamentarischen Bewegungen und Initiativen nicht davon abhängig macht, ob diese mit dem Regierungsprogramm und der geschlossenen Koalitionsvereinbarung vereinbar sind. Ich denke, nur so kann der gesellschaftliche Druck erzeugt werden, der Reformen auch ermöglicht.

Die politischen Positionen und Vorstellungen, die Walter Momper und Ingrid Stahmer während ihres Duells formuliert haben, haben noch einmal eindrucksvoll deutlich gemacht, dass auch unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung Veränderung mit Opposition beginnt. Beide haben zur Kenntnis gegeben, dass ihr Dissens zur Politik der Großen Koalition nur minimal ist. Ihnen geht es im wesentlichen nicht um eine andere Politik, sondern um eine leicht korrigierte Fortsetzung der alten Politik unter der Führung sozialdemokratischen Personals. Die SPD war und ist nicht einfach Opfer der CDU in der Großen Koalition, sondern sie hat deren Politik an vielen Punkten aktiv vorangetrieben: Sie hat offensiv die skandalumwitterte Berliner Olympiabewerbung mitgetragen. Sie betreibt aktiv eine Politik der Forcierung der Zurichtung Berlins zur Metropole des großen Geldes und der Eliten bei der die sozialen und ökologischen Interessen der Bürgerinnen und Bürger auf der Strecke bleiben.

Wir sind angesichts dieser Ausgangslage auf den Ausgang möglicher Koalitionsverhandlungen zwischen Bündnis 90/Grüne und der SPD sehr gespannt. Eines ist jetzt schon klar: In einer künftigen rosa-grünen Koalition werden die Grünen wieder ordentlich Federn lassen müssen. Es ist eben noch nicht soweit, dass die Sozialdemokraten den Baubeginn des Tiergartentunnels zum Platzen bringen, da sie Angst haben, dass damit auch der Hauptstadtumzug nicht kommt. (...)

Es sollte uns hellhörig stimmen, wenn diejenigen Mitglieder von Bündnis 90/ Grüne, die auch für eine Koalition mit der PDS eintreten, dies vor allem mit dem Argument tun, man müsse verhindern, dass eine PDS in der Opposition eine Grüne Partei an der Regierung mit ihren eigenen Forderungen und Wahlversprechen konfrontiert. Ich erinnere nur an das Diskussionsmaterial von Willi Brüggen und anderen, welches wenige Tage vor der Bundestagswahl auf den Tisch gelegt wurde. Was ist denn aber eigentlich so falsch daran, fragen wir die Grünen, eine Regierung mit grünen Forderungen zu konfrontieren, sie schlicht an ihre Wahlversprechen auch am Tag danach zu erinnern? Werden diese etwa deshalb falsch, weil Grüne dann in der Regierung sind? All diese Vorschläge aus grünen Reihen zur Einbindung der PDS in die Regierungsverantwortung laufen im Grunde auf eines hinaus: wir sollen in die Mitverantwortung für die Politik der anderen gezwungen werden und die linke Opposition soll auf diese Weise ausgeschaltet und diszipliniert werden.

Damit komme ich zu einem weiteren wichtigen Punkt. Sollte eine Minderheitsregierung zustande kommen, könnte dies mehr Demokratie und eine Stärkung des Parlaments gegenüber der Exekutive bedeuten. Die Regierung muss in jeder einzelnen Sachfrage um Mehrheiten ringen, sei es bei uns, sei es bei der CDU. Koalitionsverträge dagegen schließen eben wechselnde Mehrheiten aus. Sie sind nach einem Prinzip konstruiert, dass uns stark an den „demokratischen oder besser undemokratischen Zentralismus“ der Staatsparteien des real existierenden Sozialismus erinnert. Die Parteispitzen handeln einen Koalitionskompromiss aus, der dann per Koalitions- und Fraktionsdisziplin nach unten durchgestellt wird. Im Oktober habe ich auf dem Landesparteitag über die sehr unterschiedlichen Motive von Wählerinnen und Wählern gesprochen, PDS zu wählen. Es ist unbestreitbar: viele unserer Wählerinnen und Wähler möchten uns lieber heute als morgen im Senat sehen.

Viele andere wiederum haben uns gerade wegen unserer Wahlaussage „Veränderung beginnt mit Opposition“ gewählt, und wollen uns zukünftig auch gerade wegen dieser Oppositionsaussage wählen, weil sie daraus den so dringend notwendigen parlamentarischen und außerparlamentarischen Druck erhoffen. Aber hinter diesen beiden Haltungen steht ein gemeinsames Interesse: Gewollt wird, dass die PDS konsequent für Bürgerlnneninteressen eintritt und sich nicht korrumpieren lässt, aber auch keine Möglichkeit konkreter Veränderung und Einflussnahme für Reformen und Verbesserungen im „lnteresse der Menschen“ auslässt. Genau diesen beiden Aspekten versuchen wir mit unserem Vorschlag zu den Wahlzielen Rechnung zu tragen: Wir werden jeder - auch noch so bescheidenen - Reform mit unseren Stimmen zur Mehrheit verhelfen, ohne aber unsere Unabhängigkeit gegenüber SPD und Grünen aufzugeben und uns unsere Forderungen und Ziele abkaufen zu lassen.

Wenn es im Herbst ein solches Projekt geben sollte, wird dies noch nicht die Wende in der Politik sein. Aber es eröffnen sich Chancen.

Nun taucht immer wieder auch die Frage auf, wie die Tatsache, dass wir mit 26 Stadträtinnen und Stadträten an der Verwaltungsarbeit der Bezirke beteiligt sind, mit diesem Oppositionsverständnis vereinbar ist. Wir müssen eine klare Unterscheidung treffen zwischen der kommunalen Ebene und der Politik auf Landes- und Bundesebene. Anders als auf der kommunalen Ebene existiert in Land und Bund eine gesetzgebende Gewalt. Hier werden die politisch entscheidenden Weichen gestellt, in deren Rahmen sich die Kommunen bzw. die Bezirke bewegen müssen.

Auf kommunaler Ebene geht es vor allem darum, die engen Handlungsspielräume im Interesse der Bürgerinnen und Bürger zu nutzen, auf die Verantwortlichkeit des Senats für gesellschaftliche Missstände hinzuweisen, eine bürgernahe transparente Politik zu gestalten, die soziale Bewegungen und Initiativen und damit Bewegungen gesellschaftlicher Opposition unterstützt. (...)

Wir setzen uns das Ziel, nicht nur gestärkt in die BVV einzuziehen, sondern Bezirksamtsmitglieder und vielleicht, trotz der für uns gemachten Verfassungsänderung auch Bezirksbürgermeisterinnen zu stellen. Ich weiß, dass es dazu ganz unterschiedliche Auffassungen gibt. Sie reichen vom eigenen Streit, ob wir uns überhaupt darauf einlassen sollten, bis hin zu der Auffassung, dass dies nach bisherigen politischen Verhältnissen in dieser Stadt ein völlig unrealistisches Ziel ist. Opposition wächst von unten, deshalb wollen wir nicht nur eine starke Abgeordnetenhausfraktion, sondern unseren Einfluss in den Bezirken - in Ost und West - ausbauen. (...)

Es geht nicht etwa um die Frage, ob wir innerhalb oder jenseits dieser Gesellschaft Politik machen. Natürlich geht es einzig und allein darum, innerhalb der Gesellschaft, im Leben, gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern, zu wirken. Die wirklich vor uns stehende Frage ist die des WIE von sozialistischer Politik, hier und heute und auch in dieser Stadt. Ich denke schon, dass wir gut beraten sind, möglichst präzise das WIE und mit wem auf den unterschiedlichen Politikebenen auseinanderzuhalten und dabei auch unweigerlich auftretende Widersprüche oder auch Spannungen in Rechnung zu stellen. (...) Auch in Berlin gilt: Die Kommunen werden mehr und mehr zu den Fußabtretern von Bundes- und Landespolitik. Und unsere Aufgabe ist es, neben dem Ringen um Stadträtinnen und Stadträte, auch und immer mehr um politische Entscheidungskompetenz der kommunalen und bezirklichen Gremien zu kämpfen.

IV. Es gibt Alternativen, wenn sie gewollt werden

Wir ringen um eine starke parlamentarische Opposition und damit auch für einen Regierungswechsel. Wir werden den notwendigen Druck auf eine Reformregierung nur ausüben können, wenn wir uns auf die sozialen Bewegungen in der Stadt stützen können. Ein solches Verhältnis entsteht aber nicht von allein. Wir laden Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Mitglieder von Verbänden, Vereinen, Bürgerinitiativen ein. Wir laden sie ein zur Debatte zur Entwicklung von Alternativkonzepten und zur gemeinsamen Qualifizierung dieser. Auf dem Tisch liegt unser Vorschlag für eine andere Stadtentwicklung, z.B. mit der Forderung nach einem Sozialplan für Berlin, mit dem Vorschlag für ein alternatives Verkehrskonzept und für viele Politikbereiche mehr. (...)

Nun zu den einzelnen Schwerpunkten:

• Stichwort Mieten- und Wohnungspolitik. Mit der geplanten Einführung des Vergleichsmietensystems im Ostteil Deutschlands (und damit auch in Ostberlin) ab Mitte diesen Jahres steht den Bürgerinnen und Bürgern ein besonders drastischer Einschnitt in das gesamte bisherige Mietsystem bevor. Durch die vollständige Überführung des ehemaligen DDR-Wohnungsbestandes in den freien Wohnungsmarkt wird die bisher gültige und gesetzlich geregelte Mietpreisbindung aufgehoben. Dies wird eine weitere Mietenexplosion nach sich ziehen. Wir halten den angekündigten Schweinsgalopp in der Gesetzgebung für unzumutbar im Interesse einer sozialverträglichen Lösung. Nach neuesten Angaben soll innerhalb von nur 6 Wochen die entsprechende Gesetzgebung im Bundestag durchgepeitscht werden. Der Senat setzt auf diesem Gebiet beharrlich den verhängnisvollen Kurs der Zwangsprivatisierung durch das Altschuldenhilfegesetz fort. Der entschuldigende Hinweis auf die Verantwortlichkeit des Bundes ist hier überhaupt nicht akzeptabel. Im übrigen - unterlassener Widerstand, habe ich kürzlich gelesen, ist seit neuestem ja wohl auch strafbar. Und das kann ja wohl nicht nur rückwirkend auf andere Länder und andere Gesetzlichkeiten gelten. (...)

• Stichwort Länderfusion: In den Medien wurde gefeiert, dass Unternehmerverbände die Fusion von Berlin und Brandenburg und den jetzt vorliegenden Staatsvertrag begrüßen. Keine Frage, dass die Konzerne billigen Auslauf in Brandenburg finden. Auch keine Frage, dass damit auch etliche Arbeitsplätze in den Randgebieten gesichert werden. Und es ist, denke ich, auch keine Frage, dass der bisherige „Selbstbedienungsladen“ des Zusammenwucherns beider Regionen einer vertraglichen Regulierung bedarf.
Aber: Erstens ist es dafür eigentlich sowieso längst zu spät. Zweitens wurde bereits mit über 200 Vereinbarungen - ohne Staatsvertrag - nachreguliert. Drittens bringt die Zeitnot nun einen Vertrag auf den Tisch, der so nicht akzeptabel ist. Und viertens, ist der versprochene Volksentscheid kein Trost, weil die Mehrzahl der Bürger den Inhalt, die Auswirkungen und die Alternativen gar nicht kennen. Außerdem geht es beim Volksentscheid ja nicht mehr um die Frage: Fusion - ja oder nein, sondern nur noch um die Frage: So oder gar nicht! (...) Hinter alledem steckt natürlich auch eine gehörige Portion Wahl-Arithmetik. Fragen sind hier: Wird die „schwarze Insel“ Westberlin im „roten Meer“ von Brandenburg und Ostberlin versinken? Oder werden die zweieinhalb Millionen Westberliner das schwächere Brandenburg im Huckepack nach rechts tragen?
Uns interessiert aber am meisten, was die Vor- oder Nachteile für die sechs Millionen Menschen sind, deren Schicksal von diesem Vertrag tangiert wird. Und deshalb sagen wir, nach Prüfung eben dieses Vertrages und nach Beratung auch mit den Brandenburgern: JA zu dieser Region - aber NEIN zu diesem Vertrag und dieser Fusion!

• Stichwort Arbeit: Was nun die Arbeitslosenstatistik als Beweis für den „Boom“ in der Stadt angeht, so ist unsere Rechnung noch einfacher: Wir haben uns ja inzwischen daran gewöhnt, dass die Bundesanstalt für Arbeit die gleichen vier Hauptgegner hat, wie einst Günter Mittag, nämlich: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Denn jede Monatsstatistik enthält den Hinweis, dass da die Jahreszeit Schuld sei und nur die „saison- bereinigten Zahlen“ gelten können. Das ginge ja alles noch, wenn nicht die „sozial- bereinigten Zahlen“ schon so weit ab von der Wirklichkeit wären, dass sie immer nur die halbe Wahrheit sagen. Die Gewerkschaften legen ihre Gegenrechnung vor, wie viele Menschen im erwerbsfähigen Alter abgedrängt wurden vom Arbeitsmarkt. Den einen hat man das Recht auf Arbeit mit dem Altersübergangsgeld abgekauft. Anderen hat man eine Abfindung für den vorzeitigen Ruhestand in die Hand gedrückt. Den Frauen sagt man immer öfter: Euer Platz ist zwischen Küche und Kinderzimmer. Den Umschülern verspricht man: Lernt mal schön, dann findet ihr schon! Auch den ABM-Kräften hält man nur einen Wurstzipfel unter die Nase, um sie mal in diese, mal in jene Nische des zweiten Arbeitsmarktes zu locken. Dazu kommen dann noch über 300.000 Sozialhilfeempfänger und 12.000 Menschen, welche unter Brücken oder in den Bahnhofshallen schlafen. (...)
Wir fordern erneut ein Sofortprogramm zur Schaffung von 150.000 Arbeitsplätzen und sagen auch, wie das zu machen ist: 150.000 Arbeitsplätze könnten kurzfristig geschaffen werden durch:
- Arbeitszeitverkürzung,
- Ausbau eines öffentlich finanzierten Beschäftigungssektors,
- ökologischen Umbau der Wirtschaft und durch ein Zukunftsinvestitionsprogramm.
Unser wirtschaftspolitisches Diskussionsangebot, an dem seit über einem Jahr gearbeitet wird, zeigt dies sehr detailliert auf. Deshalb hier an dieser Stelle nur kurz, in vier Punkten, wie dies zu realisieren ist:
1. In Berlin gibt es derzeit über eine Million Beschäftigte. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit beträgt etwa 39 Stunden, d.h. ca. 38 im Westteil der Stadt, knapp 40 Stunden in Ostberlin. Bei sofortiger allgemeiner Einführung der 35 Stunden-Woche könnten etwa 120.000 Arbeitsplätze erhalten oder geschaffen werden. Gesetzlich geschützte freiwillige Teilzeitarbeit, Vermeidung von Überstunden, Freiräume für Bildung, Kindererziehung und Familienarbeit könnten weitere 50.000 Arbeitsplätze retten oder ermöglichen.
2. Seit Jahren fordert die Berliner PDS die Verzahnung von Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Arbeitsförderkredite für Existenzgründungen, qualifizierte Finanzierungsmodelle für die soziale und kommunale Infrastruktur, veränderte Wirtschaftsförderungsbedingungen können ebenfalls Arbeitsplätze schaffen helfen.
3. Allein in der Metall- und Elektroindustrie kann eine an sozialen und ökologischen Erfordernissen orientierte Investitionspolitik eine notwendige Korrektur der Wirtschaftsstruktur realisieren helfen, was neue Arbeitsplätze bedeutet. Ich nenne hier lediglich die Innovationsfelder Bautechnik, Abfall, Verkehr, Energie, Kommunikationstechnologie, neue Produktionskonzepte. Bei gezielten privaten und öffentlichen Investitionen könnte im Berliner Großraum ein beträchtlicher regionaler Markt entstehen, der für Wohnen, Arbeit, Freizeit, ökologische Vernunft neue Perspektiven bietet.
4. Die Berliner PDS setzt sich für einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor ein, der den regionalen Besonderheiten Rechnung trägt, die Integration von Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängerinnen ermöglicht, sowohl für Selbsthilfeprojekte und alternative Wirtschaftsbetriebe als auch Arbeitsförderbetriebe und völlig neue Wege offen ist, ihre Kooperation, orientiert an sozialen und ökologischen Erfordernissen, befördert.
Auch wenn wir unsere Politik natürlich mit dem Anspruch machen, sie in und für die gesamte Stadt zu entwickeln, müssen wir uns die Frage stellen:

V. Wen können wir und wen wollen wir insbesondere erreichen?

Unser Politikangebot und damit auch der Wahlkampf des Jahres 1995 zielt vor allem auf all die Bürgerinnen und Bürger,
- die aus unterschiedlicher Motivation zu dem Schluss gekommen sind:

So geht es nicht weiter! Und ich denke, es sollte auch Schluss sein mit der immer wieder erfolgten öffentlichen Diffamierung dieser Art von Protest. Natürlich ist das ein Protest, sowohl in der Wahlkabine mit dem Kreuz als auch mit der bewussten Entscheidung, eben diese Partei mit ihrem Angebot einer Alternative zu wählen. Und das ist doch nichts Schlechtes.

Wir sprechen aber auch diejenigen an,
- die erkannt oder nur das Gefühl haben, dass die herrschende Berliner Politik die Stadt in die Sackgasse geführt hat und keine innovativen Lösungsideen anzubieten weiß.

Wir wollen auch die erreichen,
- die vom Berliner Parteienfilz die Nase voll haben und von der PDS frischen Wind erwarten.

Wir bieten unsere Vorschläge denen an,
- die Mut zu radikalen Einschnitten in der Verkehrs- und Umweltpolitik einfordern. Und wir wollen mit denen zusammen wirken,
- die der Entsolidarisierung der Stadtgesellschaft entgegenwirken möchten. Wir versuchen die zu erreichen,
- die in der Politik einen Partner für die selbstbestimmte Interessenwahrnahme suchen, und die mit linker Opposition auch allseitigen, globalen wie kommunalen Widerstand gegen die herrschende konservative Politik verbinden,
- die mit linker Opposition Solidarität und mehr soziale Gerechtigkeit erreichen wollen und die mit linker Opposition auch Interessenvertretung der „Schwachen“ verbinden,
- die mit der PDS die Verteidigung gegen Vereinigungsunrecht verbinden, oder auch,
- die mit der PDS die kritische Bewahrung und Fortführung von DDR-Lebenserfahrung und Sozialisation verbinden.

Vl. Die PDS ist weiter auf dem Weg zu einer modernen sozialistischen Partei

Auf dem Bundesparteitag am vergangenen Wochenende wurde darüber debattiert, dass sich die PDS bewusst auf den Weg machen muss, von der Partei der Selbstbehauptung zum wirkungsvollen parlamentarischen und vor allem außerparlamentarischen Eingreifen. Nun ist dies keine erst heute neu auf die Tagesordnung drängende Frage. Obwohl ich aus den Reden und den veröffentlichten Schriften der vergangenen Woche den Eindruck habe, dass manch einer dies so sieht, dass wir uns heute einer völlig neuen Aufgabe zu stellen hätten. Sicher ist aber auch, dass sich unsere Möglichkeiten und auch unsere Verantwortung in den vergangenen Jahren erheblich verändert haben. Darauf müssen wir uns viel bewusster einstellen. Dazu gehört im übrigen endlich eine konsequente Analyse der Bedingungen und Ergebnisse unserer bisherigen außerparlamentarischen und parlamentarischen Bemühungen. Ich habe dies im Oktober als Erwartung an die Arbeit der Vorstände und auch an den Bundesparteitag schon einmal formuliert. Wenn nun seit einer Woche viele sich dazu äußern, was der Bundesparteitag alles geleistet und geschafft hat oder eben auch nicht, dann kann ich nur feststellen, dass wir gerade diese Analyse und die daraus notwendigen strategischen Schlussfolgerungen noch nicht in der notwendigen Qualität gemeinsam entwickeln und auch auf dem Parteitag beraten und auch letztendlich beschließen konnten. Wir haben es alle insgesamt nicht vermocht, aus den Landesverbänden diese Dinge einzubringen, und wir haben es auch nicht vermocht, die Debatte auf dem Parteitag zu den Punkten zu führen, die wenigstens einmal klare Fragestellungen für das nächste halbe bis eine Jahr, für Analyse wie auch weitere politische Tätigkeit hervorbringen.

Noch einige Gedanken zur weiteren Arbeit im Westteil dieser Stadt als Diskussionsangebot.

In Westberlin stellen sich die Probleme und Aufgaben für die PDS bekanntlich etwas anders als im Osten der Stadt dar. Während es in den Ostbezirken darum geht, die Wahlergebnisse um die 40% zu halten, geht es im Westteil der Stadt darum, die Chance zu nutzen und in ausgewählten Bezirken die 5%-Hürde, zu nehmen. Die Wahlkämpfe im vergangenen Jahr- und die dort vom Landesvorstand auch gegen die Bedenken einzelner Basisorganisationen vorgenommene konzeptionelle Festlegung - bedeuten eine wichtige Weichenstellung für die weitere Verankerung und den Aufbau von PDS-Strukturen. Und wenn etwas erfolgreich war, sollte man das auch ruhig mal benennen:

Mit der Konzentration auf wenige inhaltliche Schwerpunkte, klar umrissene Zielgruppen im Blick ist es gelungen, in Kreuzberg die 5%-Hürde zu nehmen. Es ist gelungen, Impulse auszusenden, so dass sich seit unserer letzten Tagung eine Basisorganisation in Tiergarten und eine PDS- nahe Hochschulorganisation gegründet haben.

Diese Erfolge sind aber eigentlich schon der Schnee von gestern, sie heben aber auch die Meßlatte für den vor uns liegenden Wahlkampf, aber auch und vor allem für die Arbeit über die Abgeordnetenhauswahlen hinaus. Wir müssen das gewonnene Terrain verteidigen und neue Wählerlnnenpotentiale, Sympathisantinnen und Mitglieder gewinnen. Und das wird im wesentlichen aus zwei Gründen ungleich schwerer als 1994:

Erstens sind mit den guten Wahlergebnissen die Chancen gestiegen, eventuell in zwei oder gar drei Bezirken in Westberlin den Sprung in die BVVen zu schaffen, was aber auch den inhaltlichen und organisatorischen Erwartungsdruck seitens unserer WählerInnen und Konkurrentinnen erhöht;
zweitens wird von uns nun Landes- und bezirkspolitische Kompetenz abgefragt werden, die bei den Bundestagswahlen eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat. Gerade hier liegt ein großes Problem für die PDS im Westteil der Stadt. Anders als im Ostteil ist die PDS im Westen eine mehr oder weniger traditionslose Partei. Sie ist nicht Produkt einer gesellschaftlichen Bewegung im Westen selbst, sondern vielmehr organisatorischer Ausdruck für die spätestens 1989 einsetzende Krise der Linken im Westen Deutschlands. Bis auf wenige Ausnahmen sind die West- BO immer noch eher die Summe ihrer Einzelteile aus vormals konkurrierenden bis verfeindete Organisationen, als etwas wirklich Neues, das links Interessierte im Westen wirklich begeistern könnte. Das ist kein Vorwurf. Es geht hier nicht um Schuldfragen, sondern darum, als Anregung darüber nachzudenken, was wir gemeinsam tun müssen, damit sich das verändert.

Während wir im Ostteil der Stadt in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen verankert sind und dort auch täglich geprüft werden, liegt die Chance im Westen dort, wo die Grünen - leider muss man sagen, ganz bewusst - politische Positionen geräumt haben. Und das ist nicht nur ein wahltaktisches Argument. Zugunsten der Rolle einer Regierungspartei im Wartestand, haben die Grünen die Sachzwangideologie, die Rhetorik der grundsätzlichen Alternativlosigkeit zum Bestehenden, größtenteils übernommen. Damit verlieren sie einen großen Teil der wichtigen Funktion in dieser Gesellschaft, die sie in ihren Anfangsjahren hatten. Nämlich die Funktion, nicht nur auf Probleme und Missstände in der Gesellschaft aufmerksam zu machen, sondern auch für die Lösung der Probleme in der Gesellschaft - und nicht nur im Parlament - die Menschen zu mobilisieren. Unsere Aufgabe muss es sein, das Loch, das die Grünen hier hinterlassen haben, neu mit unseren Inhalten zu füllen. Dies könnte dazu beitragen, der fortschreitenden Rechtsentwicklung der Gesellschaft Einhalt zu gebieten.

Das bedeutet aber auch, dass wir uns in die öffentliche Auseinandersetzung mit Grünen und Sozialdemokraten begeben müssen, die Diskussion um das vielzitierte sozial-ökologische Reformprojekt annehmen müssen. Mit ideologischen Bekenntnissen zum Links -, Kommunistln - oder SozialistIn - Sein werden wir da nicht weit kommen. Wir müssen uns die Kompetenz erarbeiten, die bezirkspolitisch von uns gefordert wird. Und das heißt, die Zusammenarbeit suchen mit Verkehrsinitiativen, Mieterinitiativen, Kulturgruppen im Stadtbezirk. Das heißt, sich in die Gesellschaft begeben und gemeinsam mit den Menschen im Kiez gegen die Verdrängungsprozesse in den Kiezen, gegen die Auswirkungen des Hauptstadtumbaus zu kämpfen und damit die Reformprojekte von unten zu befördern.

Zusammen mit den außerparlamentarischen Initiativen und Bewegungen und vor allem in ihnen müssen wir z.B. anlässlich des Rio- Nachfolgegipfels im März und April deutlich machen, dass ein autofreier Sonntag nicht verdecken kann, was ein Großprojekt wie der Tiergartentunnel für eine ökologische und stadtentwicklungspolitische Katastrophe ist. Wir müssen unsere Antirassismus- und Antifa- Arbeit weiter ausbauen und intensivieren, im Bündnis mit den Antifa Gruppen in West und Ost, um für die möglichst schnelle Ablösung eines Innensenators Heckelmann zu kämpfen, der Antifaschistinnen und PDS kriminalisiert, Flüchtlinge abschiebt und gleichzeitig in seinem Hause engste Kontakte zu Neofaschisten nicht nur duldet sondern auch verteidigt.

In Berlin Politik zu machen, das bedeutet auch, niemals zu vergessen, dass von dieser Stadt aus zwei mörderische Weltkriege ausgingen, dass hier die Vernichtung der Juden geplant wurde. Wir begehen in diesem Jahr den 50. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus. Wir würdigen die historische Leistung der Antihitlerkoalition, die die Welt vor einem Rückfall in die Barbarei rettete und Deutschland, wo die Mehrheit der Bevölkerung weder fähig noch willens war, sich aus eigener Kraft vom Faschismus zu befreien, die Chance für einen demokratischen Neubeginn eröffnete. Aus dem Gedenken an die Opfer des faschistischen Terrors, an den Widerstand und an die Befreiung ergibt sich für uns die Verpflichtung, gegen den Neofaschismus der Gegenwart, gegen aktuelles deutsches Vorherrschaftsstreben, gegen die damit einhergehende Militarisierung der Außenpolitik mit aller Entschiedenheit aufzutreten. In diesem Punkt sind und bleiben wir dogmatisch. (...)
 

 

 

4.2.1995
www.petra-pau.de

 

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