Der 8. Mai 1995 - Herausforderung und Chance

in: Disput 21, Jahrgang 1994

von Petra Pau und Peter-Rudolf Zotl

Im nächsten Jahr - am 8. Mai 1995 - jährt sich zum fünfzigsten Mal der Tag, an dem das Oberkommando der faschistischen deutschen Wehrmacht in Berlin die bedingungslose Kapitulation unterzeichnete.

Noch nie und nie wieder war die physische, politische und geistige Existenz der Menschheit so gefährdet gewesen wie in den Jahren der Nazidiktatur und ihres verbrecherischen Versuches, Europa und die Welt zu erobern. Völlig unabhängig davon, wie sich die anfolgende Nachkriegsgeschichte gestaltete, kann und muss der Tag, an dem sich die Befreiung vom Faschismus endgültig vollzog, zu den wichtigsten Daten dieses und der letzten Jahrhunderte gezählt werden.

Aus der Abschieds-Groteske für die Alliierten lernen

Die offizielle Politik in der Bundesrepublik ist auf dem besten Wege, sich in ihrer praktischen Politik diesem Tage zu entziehen. Ein Beispiel dafür ist der in zwei Etappen und zwei Klassen erfolgte Abschied der Alliierten.

In Erkenntnis der gewaltigen Menschheitsgefährdung, die vom deutschen Faschismus ausging, hatten sich zu Beginn der vierziger Jahre Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung - allen voran die Sowjetunion, die USA, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Frankreich - zusammengeschlossen und als Alliierte den deutschen Faschismus niedergerungen. Sie stellten in einem sehr komplizierten und in sich widersprüchlichen Prozess die gemeinsamen Interessen in den Mittelpunkt und befreiten die Menschheit von der faschistischen Pest. Damit bewiesen sie für einen historischen Augenblick Weltverantwortung. An diese Gemeinsamkeit anzuknüpfen und sie mit einem gemeinsamen Abschied aller Alliierter politisch wieder präsent und dominant zu machen, wäre - wie wir meinten - die einzige und dringend notwendige Möglichkeit gewesen, aus der alliierten Tradition Zeichen für die Zukunft zu setzen. Um den politischen Charakter des einstigen Miteinander als Zeichen für die zukünftige Gestaltung der internationalen politischen Beziehungen zu unterstreichen, traten wir für eine ausschließlich zivile Verabschiedung ein.

Die andere Traditionslinie, die sich mit dem Wirken der Alliierten auch verbindet, ist der vierzigjährige Systemkonflikt, durch den sich die einstigen Alliierten immer mehr in einen Gegensatz zu dem setzten, was sie ehedem im Kampf gegen Hitlerdeutschland geleistet hatten. Churchill - als Auslöser und wohlgemerkt nicht als der alleinige Verursacher - setzte den Startschuss, indem er 1946 in seiner berüchtigten Fulton-Rede erklärte, dass die Westmächte mit Hitlerdeutschland das falsche Schwein ge-schlachtet hätten. Der über vierzig Jahre dauernde Kalte Krieg war endgültig eröffnet.

Beim Abschied der Alliierten stand also zur Entscheidung, an welche Traditionslinie - auch als Wechsel in die Zukunft deutscher und internationaler Außenpolitik - angeknüpft werden sollte: an die des gemeinsamen Handelns und der gemeinsamen Interessen in den frühen vierziger Jahren oder an die konfrontative der dann folgenden vier Jahrzehnte. Entgegen der Vernunft und der Notwendigkeit, Zeichen für eine übergreifende Zusammenarbeit im auch nach dein Ende der Systemauseinandersetzung geteilten Europa zu setzen, knüpften die deutsche, aber auch die amerikanische, die britische und die französische Politik nahtlos an die Nachkriegsbeziehungen der ehemaligen Kriegsalliierten, also an die Jahrzehnte der Block- und Systemkonfrontation, an. Die Verabschiedung erfolgte nicht gemeinsam, sondern in zwei Etappen, die Chance einer zivilen Verabschiedung wurde zugunsten eines ungeheuren militärischen Pomps verworfen; der Abschied war nicht auf gleichem Niveau, sondern in zwei Klassen; er entsprach nicht den tatsächlichen historischen Verdiensten bei der Befreiung vom Faschismus, sondern die GUS-Truppen wurden mitleidig und von oben herab - assistiert von einem clownesken Staatspräsidenten samt Hofkapelle - wie Dienstboten entlassen.

Entgegen allen andersartigen Chancen wurde nach wie vor Großmachtdenken demonstriert, doch diesmal mit einigen vertauschten Rollen: Russland hatte offensichtlich vergessen, dass es eine ist, und es wurde auch aus dem Kreis der "Großen Vier" ausgegliedert. Dafür wurde Deutschland hereingebeten, und es setzte mit dem Abschied der Alliierten eindeutige Zeichen, dass und wie es diese Teilung der Welt sowie die Neuaufteilung der weltpolitischen Machtrollen fortzusetzen gedenkt.

Der 8. Mai 1995 kann und muss auch dazu beitragen, die Erinnerung an die verheerende Rolle, die Deutschland bis vor 50 Jahren in der Welt gespielt hat, wachzuhalten, die Befreiungstat der Alliierten - besonders der UdSSR - als wahrlich welthistorisch in Erinnerung zu rufen und auch die Verantwortung der deutschen Politik genau zu benennen, die sie für einen aktiven Antifaschismus trägt.

Um ein entmilitarisiertes Berlin ringen

Beim offiziellen Abschied der Westalliierten in Berlin führte die Bundeswehr am Brandenburger Tor einen Großen Zapfenstreich durch. Forderungen, in Berlin ein Zeichen zu setzen und nach dem Abzug des Militärs eine entmilitarisierte Stadt zu schaffen, wurden in den Wind geschlagen. Die Präsenz der Bundeswehr in Berlin wurde als Symbol nun völliger deutscher Souveränität sowie einer neuen europäischen Rolle Berlins gewertet.

Die Berliner PDS misst gerade der Entmilitarisierung Berlins eine besondere Rolle bei. Vierzig Jahre Konfrontation auch der Militärblöcke haben nichts gebracht. Nicht ein einziges bi- oder multilaterales Problem konnte in der Nachkriegszeit im Interesse der Menschen militärisch gelöst werden. Die sich drehende Rüstungsspirale und das damit verbundene Abschreckungskonzept verschlangen Billiarden an Volksvermögen, und im Realsozialismus trug dies wesentlich dazu bei, dass ungeheure Mittel nicht zur tatsächlichen Befriedigung der materiellen und geistig-kulturellen Bedürfnisse der Menschen zur Verfügung standen. Erst die Absenkung der militärischen Gefahr durch die gemeinsame Abrüstung erhöhten die Sicherheit und schufen Chancen für friedliche Konfliktlösungen. Gerade nach dem Ende der Systemauseinandersetzung hätten nun wirkliche Garantien fair ausschließlich friedliche Konfliktlösungen geschaffen werden können, aber diese einzigartige Möglichkeit wurde bewusst verspielt, und die Gefahr kriegerischer Konflikte ist bedrohlich gestiegen.

Ein entmilitarisiertes Berlin wäre nicht mehr als ein Symbol, aber es wäre auch nicht weniger als das gewesen: ein Symbol dafür, dass - mitten im Zentrum des ehemaligen Systemkonfliktes, wo die Blöcke direkt aufeinander stießen - Vernunft und Realismus in die Politik einziehen können. Um den Krieg als Mittel der Politik auszuschließen, muss auch die Beseitigung der Instrumente erfolgen. In diesem Sinne hätte ein entmilitarisiertes Berlin nicht - wie es die Berliner SPD der PDS unterstellte - eine neue Sonderrolle Berlins konstituiert, sondern einen ersten Schritt für den in der ganzen Welt so notwendigen Weg markiert, überall Bedingungen für die ausschließlich friedliche, politische und nichtkriegerische Konfliktlösung zu schaffen. Alle diese Chancen wurden vertan, und niemand sollte annehmen, dass das zufällig sei. Gerade deshalb sollte uns der 8. Mai 1995 Anlass sein, vehement mit parlamentarischen und außerparlamentarischen Initiativen darum zu ringen.

Den 8. Mai 1995 als Chance sehen

Die Berliner PDS - sowohl im außerparlamentarischen Raum als auch im Berliner Abgeordnetenhaus - hat allen politischen Kräften vorgeschlagen, gemeinsam ein Konzept für den 8. Mai 1995 zu erarbeiten. Der zentrale Gedanke dieses Tages sollte nach unserer Auffassung sein, dass wir damit eines der wichtigsten Tage der menschlichen Geschichte und Zivilisation gedenken und die Bereitschaft zu einem aktiven Antifaschismus auch und besonders als Grundwert der heutigen Politik demonstrieren wollen.

Diese Feierlichkeiten sollten vor dem Reichstag stattfinden, und sie dürfen nach unserer Auffassung in ihrer Bedeutung nicht hinter dem zurückbleiben, wie der 50. Jahrestag der Landung der westlichen Alliierten in der Normandie begangen wurde. Wir streben eine parteienübergreifende und zugleich parteienunabhängige Gedenkveranstaltung an. Dazu wäre es unseres Erachtens notwendig, nicht nur die vier Siegermächte einzuladen, sondern ehemalige Soldaten, Bürgerinnen und Bürger aus allen Ländern, die den deutschen Faschismus niederrangen - darunter auch und besonders aus allen heute selbständigen Staaten der ehemaligen UdSSR.

Zum notwendigen Umfeld für diesen Tag gehört nach unserer Auffassung mehr: Noch immer zieren Namen die Berliner Straßenschilder, deren Trägerinnen und Träger auf fatale Weise mit der Geschichte des preußisch-deutschen Militarismus, mit deutscher Kriegs- und Kolonialpolitik, mit deutschem Chauvinismus und Weltherrschaftsstreben sowie mit der faschistischen Diktatur verflochten sind. So heißen z.B. allein nach Theodor Heuß und Jakob Kaiser drei repräsentative Berliner Straßen bzw. Plätze. Beide aber hatten 1933 im Deutschen Reichstag dem Hitlerschen Ermächtigungsgesetz, mit dem die Weimarer Republik samt ihrer Demokratie lebendig ins Grab befördert wurde, zugestimmt. Hingegen wurden sowjetische Soldaten - an der Spitze der erste Stadtkommandant N. E. Bersarin - von den Straßenschildern und aus der Ehrenbürgerliste getilgt. An die Oberkommandierenden der Truppen, die direkt Berlin befreiten - also der sowjetischen und der polnischen - erinnert in Berlin nichts. Was wäre gegen die Rückkehr zu einer Straße der Befreiung einzuwenden? Als die Lichtenberger Straße der Befreiung, deren Name im übrigen bewusst keine einseitige Orientierung auf die Rolle der UdSSR enthielt, in Altfriedrichsfelde rückbenannt wurde, fragte die gewendete CDU in der Bezirksverordnetenversammlung, wovon wir eigentlich befreit worden seien ... Wir meinen, dass zugleich alle Denkmale und Museen, die an die Befreiung erinnern, besonders gepflegt und gefördert werden müssen.

Für besonders wichtig halten wir, dass eine öffentliche Verständigung darüber herbeigeführt wird, in welche Schuld die Faschisten das deutsche Volk verstrickt haben und dass dem wiedererstarkenden Faschismus nicht mit Einzelfragen - z.B. dem Gewaltverzicht - beigekommen werden kann. Antifaschistischer Widerstand muss ohne Wenn und Aber als Heldentum verstanden und darf nicht auf der Waage mit Kategorien wie Fahnenflucht, Dolchstoß, Vaterlandstreue oder Eidespflicht abgewogen werden. Es müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, damit sich Rechtsradikalismus und Neofaschismus als politische Alternativen gerade angesichts sozialer Problemeskalation und der offensichtlichen Krise des etablierten Parteiensystems ausschließen.

Und schließlich meinen wir, dass im Vorfeld des 50. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus eine sehr selbstkritische Bilanz darüber gezogen werden muss, wie es bzw. wie es nicht gelungen ist, in der Alt-BRD und in der DDR die faschistische Vergangenheit zu bewältigen und worin die Ursachen für die heute so gefährliche Entwicklung liegen.

Die PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hat vorgeschlagen, dass gemeinsam mit Antifaschistinnen und Antifaschisten ein Konzept für den 8. Mai 1995 erarbeitet wird. Ein entsprechendes außerparlamentarisches Bündnis, in dem auch die PDS mitarbeitet, besteht bereits.

Ein aktiver Antifaschismus muss moralischer Imperativ und Staatsdoktrin werden Heute - nur fünfzig Jahre nach der damals endgültig erscheinenden Zerschlagung des deutschen Faschismus - bedrohen Neofaschismus, Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit erneut die Gesellschaft. Auf verhängnisvolle Weise rächt sich, dass in der alten Bundesrepublik seit Beginn ihres Entstehens kein bzw. nur wenig offizielles Interesse an der Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit bestand. Die Ursachen für diese unbewältigte Vergangenheit sind vielfältig und reichen vom konservativen Werte- und Traditionsverständnis über das absolute Desinteresse der bundesrepublikanischen Elite, über sich und ihre Verstrickungen in das Naziregime eine öffentliche Auseinandersetzung zu führen, bis hin zur antikommunistischen Staatsdoktrin der BRD, die sich in hohem Maße über eine kritiklose Selbstdarstellung, eine verfälschende Darstellung der Sowjetunion im zweiten Weltkrieg sowie über ein den Antifaschismus verschweigendes DDR-Bild speiste. Nur so ist es erklärlich, dass über Jahrzehnte in der Bundesrepublik neofaschistische Gruppierungen existieren und sich festigen konnten, dass erst seit wenigen Jahren die Leugnung z.B. der faschistischen Massaker an der jüdischen Bevölkerung einen Straftatbestand darstellt und vor allem, dass nicht wenige Deutsche die Zeit des Faschismus als Moment ungebrochener deutscher Geschichtskontinuität verstehen, der gegenüber - getreu dem Motto „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ - durchaus positive Gefühle gehegt werden.

Es wäre aber falsch, würden wir übersehen, dass es in vielen politischen Lagern eine deutliche Beunruhigung über die jetzige rechtsradikale und neofaschistische Gefahr gibt. Es wäre falsch, die vielen Zeichen politischer Vernunft zu übersehen, dieser Gefahr gemeinsam zu begegnen. Es wäre verhängnisvoll, jenen folgen zu wollen, die einen gemeinsamen Antifaschismus erst unter den Be-dingungen allgemeiner politischer Affinität praktizieren wollen.

In diesem Sinne vertreten wir die Auffassung, dass die langfristige Vorbereitung auf den 50. Jahrestag der Befreiung genutzt werden muss, um in der Bundesrepublik - und aus unserer speziellen Verantwortung gesehen, in Berlin - eine aktive antifaschistische Politik und ein antifaschistisches Klima zu befördern. Gerade weil wir Antifaschistinnen und Antifaschisten sind, dürfen wir Antifaschismus nicht als politisches und moralisches Monopol verstehen und praktizieren. Im Gegenteil: Unser wichtigstes Anliegen muss darin bestehen, antifaschistisches Denken und Handeln zu vergesellschaften, und das heißt auch, diesen Staat, dessen antifaschistische Verdienste wahrlich nicht übermäßig sind, dazu zu zwingen.

Ganz bewusst möchten wir darauf dringen, dass der Staat - egal, wie Antifaschistinnen und Antifaschisten zu ihm stehen - alle die ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzt, um antifaschistisches Denken und Handeln zu initiieren und neofaschistische Aktivitäten wirksam mit Sanktionen zu belegen und zu verhindern. Ohne Illusionen und falsche Hoffnungen in diesen Staat und seine Haltung zum Antifaschismus zu haben, wollen und müssen wir die Regierenden zwingen, sich mit aller Deutlichkeit von rechtsextremen und neofaschistischen Kräften und - was noch wichtiger ist - Positionen zu distanzieren und politische, juristische, geistig-kulturelle und Verwaltungsentscheidungen gegen diese zu treffen. Wir müssen diesen Staat zwingen, antifaschistische, antirassistische und Ausländerprojekte in Politik, Wissenschaft, Kultur, in der politischen Bildung und auf sozialem Gebiet zu fördern und weitere zu initiieren.

Wenn wir erkennen, dass die Wurzeln für rechtsradikale, ausländerfeindliche und auch für manche neofaschistische Tendenzen im politischen Versagen bzw. dem Konzept der sogenannten Mitte der Gesellschaft liegen, dann muss Druck auf diese Mitte gemacht werden, und es müssen jene, in dieser Mitte gestärkt werden, die sich der wieder aufkommenden rechtsradikalen und neofaschistischen Gefahr widersetzen wollen.

Um in diesem Zusammenhang einen zweiten, ganz sicher auch nicht ohne Widerspruch bleibenden Gedanken zu äußern: Es ist nach unserer Auffassung durchaus geboten, an Erfahrungen in der DDR anzuknüpfen.

Gerade angesichts der vereinfachenden Behauptung, in der DDR habe es lediglich einen "verordneten Antifaschismus" gegeben, dürfen wir nicht vergessen, wie wichtig die offizielle politische Orientierung auf Antifaschismus in der DDR für die vielfältig verinnerlichten antifaschistischen Positionen war. Weder in Westberlin noch in der Alt-BRD gab es wenigstens einen "verordneten Antifaschismus", und der Zusammenhang zwischen dem heutigen Rechtsradikalismus und Neofaschismus mit diesem bewusst gewollten Defizit hinsichtlich eines antifaschistischen Bewusstseins ist leicht herzustellen. Ein nicht zu unterschätzendes Ziel muss - siehe oben - sein, auch im heutigen Deutschland - und zwar in seinen offiziellen Strukturen und über diese - eine aktive Auseinandersetzung mit dem Faschismus sowie antifaschistisches Denken und Handeln als Selbstverständlichkeit zu erzwingen.

Gerade hinsichtlich des staatlich-politischen Umgangs mit dem Antifaschismus gab es zwischen der Alt-BRD und der DDR beträchtliche Unterschiede. Für besonders bedenklich halten wir, dass mit der deutsch-deutschen Vereinigung ausnahmslos auch auf diesem Feld die Praxis der Alt-BRD in den neuen Bundesländern übernommen wurde. Während unter Adenauer alte Nazi-Exponenten in höchste Ämter kamen, eine ganze Richterschaft unbehelligt blieb, Kameradschafts- und Traditionsvereine aus dem Boden sprossen und offizielle Gelder erhielten, besetzten in der DDR Antifaschistinnen und Antifaschisten die Schlüsselstellen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Zu den ersten großen Gedenkstätten, die in der jungen DDR errichtet wurden, gehörte das ehemalige KZ Buchenwald, und spätestens dort wurden Generationen von jungen Menschen über die Gräueltaten des deutschen Faschismus aufgeklärt. In Westberlin brauchte es Jahrzehnte, bis die Gedenkstätte Deutscher Widerstand eröffnet werden konnte, und über die Einbeziehung der Kommunisten in die dortige Ausstellung tobt bis heute ein politischer Streit. Überall in der DDR wurde die antifaschistische Traditionspflege praktiziert, während z.B. in der BRD bis heute selbst solche Kasernen zu suchen sind, die nach Frauen und Männern des 20.Juli 1944 benannt wurden, und nach der deutsch-deutschen Vereinigung mussten Schüler, Lehrer und Eltern harte Kämpfe ausfechten, damit die Schulen weiter nach Anne Frank oder den Coppis heißen durften.

In Berlin-Mitte, also dem ehemaligen Ostberlin, ist das Gebäude des Abgeordnetenhauses das einzige Haus mit drei Adressen: PDS, SPD und Bündnis 90/Grüne (AL) geben die Niederkirchnerstraße an, CDU und F.D.P lassen ihre Post an die Anschrift Am Preußischen Landtag adressieren, und die CDU-Präsidentin des Hauses hat als Hausherrin gegen ein Mehrheitsvotum des Parla-ments verfügt, dass die offizielle Postadresse „Abgeordnetenhaus von Berlin, 10111 Berlin-Mitte“ zu sein habe. Und das alles deshalb, weil die Namenspatro-nin Käte Niederkirchner, die als antifa-schistische Widerstandskämpferin am 28. September 1945 von den Nazis hingerichtet wurde, eine Kommunistin und potentielle Wegbereiterin - so die konservativen Provinzpolitikerinnen und -politiker Berlins - des „SED- und DDR-Unrechtsregimes“ hätte sein können.

An Erfahrungen mit den staatlich „verordneten“ Prinzipien des Antifaschismus in der DDR anzuknüpfen, heißt aber auch, sich mit deren grundsätzlichen Fehlern auseinander zusetzen. Leider blieb vieles in der antifaschistischen Erziehung in der DDR einseitig und plakativ. Vor allem wurde er als moralische Legitimation für die aktuelle Politik der SED missbraucht. Das brachte die Bewertung aller antifaschistischen Kräfte danach hervor, wie sie zu den Kommunisten und dann zur SED standen.

Viel zu spät - eigentlich wiederum erst zur Legitimation eines politischen Konzepts, nämlich des Konzepts, die von den Großmächten ausgerufene Eiszeit zu brechen - wurden der bürgerliche, der christliche, insgesamt der nichtkommunistische Widerstand ins Bewusstsein geweckt, und doch blieb an ihnen das Etikett einer de - facto - Zweitrangigkeit.

Eine terra incognita blieb bis zum Ende der DDR der sozialdemokratische Widerstand. Stattdessen wurde bis zum Ende der DDR die Auffassung verbreitet, die Hauptschuld an der fehlenden antifaschistischen Aktionseinheit der Arbeiterklasse gegen Ende der Weimarer Republik trügen die sozialdemokratischen Führer. Natürlich entspricht es der historischen Wahrheit, dass vor und nach 1933 - und selbst noch in der Illegalität und im Exil - der SPD-Führung die Distanz zu den Kommunisten wichtiger als der gemeinsame antifaschistische Kampf war. In Oranienburg trafen wir kürzlich bei einer Kranzniederlegung eine Genossin, die 1936 - in der Illegalität lebend - aus der SPD ausgeschlossen wurde, weil sie die antifaschistische Zusam-menarbeit mit Kommunisten praktizierte.

Dass aber tausendfach - in Durchsetzung der verhängnisvollen und falschen Orientierung des 6. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, wonach der Hauptfeind die Sozialdemokraten, die "Sozialfaschisten", seien - Ortsverbände der KPD durch die Parteizentrale - darunter viele Male durch Ernst Thälmann persönlich - getadelt wurden, weil sie mit den Sozialdemokraten gemeinsame Aktionen gegen die Faschisten durchführten, und dass zugleich immer wieder diese Organisationen angehalten wurden, mit den Nazis gegen die SPD zu kämpfen, wurde systematisch verschwiegen, obwohl die entsprechenden Telegramme, Rundschreiben und Direktiven schon vor zwanzig Jahren von Hermann Weber in der Alt-BRD herausgegeben wurden und bekannt waren.

So schlimm und entlarvend es ist, dass in der heutigen BRD die Träger des Antifaschismus zu Zeiten der NS-Herrschaft lediglich als Opfer des Faschismus kategorisiert werden, hatte die zweigeteilte Wertschätzung in der DDR, die die Kämpfer gegen den Faschismus und die die Opfer des Faschismus erfuhren, auch etwas Diskriminierendes. Und nicht vergessen dürfen wir, dass am Ende Politiker und andere Verantwortliche, die aus dem antifaschistischen Widerstand kamen, selbst demokratische Rechte Andersdenkenden verweigerten und die Auseinandersetzung mit ihnen immer mehr mit den Mitteln repressiver Staats-gewalt führten. Aber gerade das darf nicht zur Diffamierung der antifaschisti-schen Prinzipien missbraucht werden, denn das hatte seine Ursachen im politischen System und dessen grundlegenden Demokratiedefiziten.

Antifaschistische Arbeit als Herausforderung begreifen.

In unserem Streben nach Selbstbesinnung und -orientierung sollten auch wir - besonders in Vorbereitung auf den 50. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus - uns nicht zurücklehnen, sondern die antifaschistische Arbeit als eine grundlegende politische Herausforderung annehmen und gestalten. In der PDS müssen wir darum ringen, einen selbstbewussten, ideenreichen und konsequent-selbstverständlichen Umgang mit der Tatsache zu praktizieren, dass Antifaschismus eine zentrale Kategorie alter-nativ-demokratischer sozialistischer Politik ist.

Dabei sollten wir erstens in Rechnung stellen, dass antifaschistisches Wollen zwar die wichtigste Voraussetzung für einen bewussten und aktiven Antifaschismus bildet, dass aber bei den meisten von uns viele historische und politische Defizite existieren. Dabei geht es sowohl um die Aufarbeitung der Geschichte, also des realen Faschismus und der Ganzheit antifaschistischen Kampfes. Gerade die aktuelle Debatte um das schlimme Kohl-Wort von den „rot- lackierten Faschisten“, mit dem er ein Wort Kurt Schumachers aufgreift, zeigte uns - und eben auch, uns persönlich -, dass uns bestimmte historische Entwicklungen nicht bekannt 'und demzufolge daraus erwachsende Folgen und etwaige Parallelen nicht nachvollziehbar waren. Deshalb sollten wir besonderen Wert auf eine politische Bildungsarbeit legen, die uns die aktuellen Lehren für heutiges antifaschistisches Verhalten und Wirken schlüssig ableiten lässt. Dazu gehört unseres Erachtens auch, dass wir uns selbst dazu erziehen, die Parallelen zum Faschismus nicht zu schnell und zu oberflächlich zu ziehen, denn jeglicher falscher Vergleich bagatellisiert den Faschismus und trägt auf seine Weise dazu bei, ihn zu verharmlosen.

Zweitens müssen wir aus dem antifaschistischen Kampf gegen Hitler, aus der Geschichte der Arbeiterbewegung bis 1933 und auch aus dem heutigen Kampf gegen rechts dringend die Konsequenz in die praktische Politik umsetzen, dass Antifaschismus nicht parteipolitisch okkupiert werden darf. In vielen Bündnissen erleben wir immer wieder Ansprüche auf Monopole und die Inanspruchnahme von Ausgrenzungspraktiken gegenüber anderen. Der reale Faschismus an der Macht hat alle gelehrt, dass er im Umgang mit seinen Gegnern keinen Unterschied macht. Völlig berechtigt verweisen die Sozialdemokraten darauf, dass sie 1933 als einzige gegen das Hitlersche Ermächtigungsgesetz stimmten. Aber sie kamen nicht durch und fanden keine Mehrheit, weil bereits im März 1933 durch die Nazis alle kommunistischen Reichstagsmandate für ungültig erklärt worden waren, ohne dass sich bei der SPD auch nur die Spur eines Widerstandes geregt hatte... Wenn es also darum geht, aus der Geschichte zu lernen und sich von Anfang an einer aufkeimenden neofaschistischen Gefahr konsequent in den Weg zu stellen, dann geht das nur gemeinsam, über weltanschauliche und Parteiengrenzen hinweg; einem selektiven Antifaschismus müssen wir uns - gerade in den entsprechenden Bündnissen - mit all unserer Überzeugungskraft entgegenstellen. Für uns sind Positionen untragbar, die Antifaschismus wie einen exquisiten Ego-Trip praktizieren wollen.

Drittens meinen wir, dass wir die geistigen Grundlagen des modernen Neofaschismus analysieren und bekämpfen müssen. Sie drücken sich auch in Symbolen, im Traditionsverständnis und bestimmten politischen Forderungen aus, aber sie bestehen in einer abgrundtiefen Demokratiefeindlichkeit, in einer ausgesprochenen Hervorhebung eines irrational determinierten Führerprinzips, in rassistischer Überheblichkeit, in einer auf die Zuwanderung von Eliten reduzierten Einwanderungspolitik und ansonsten in der Befürwortung einer deutschen Abschottungspolitik gegenüber Ausländerinnen und Ausländern sowie vor allem auf einem militanten Antisemitismus. Dazu gehört eine ausgesprochene Diskriminierung von Frauen, Homosexuellen und Menschen mit Behinderungen, und Teil dieser Ideologie ist das Bekenntnis zu Militär und Krieg. Wenn wir dieses aufzählen, dann stimmt schon, dass die Zahl derer, die das alles im Komplex vertreten, noch nicht besonders groß ist und dass unter den Neonazis viele Verführte, die aus ihren sozialen Nöten keine Auswege wissen, sind. Aber wir müssen auch feststellen, dass viele dieser Positionen - oftmals sogar miteinander gekoppelt - in anderen rechten Parteien und Organisationen und vor allem auch bei konservativen Parteien substantiell enthalten sind. Insofern müssen wir die politische Auseinandersetzung qualifizieren, gerade weil wir heute um die Folgen solcher partiell vertretenen Konzepte in der offiziellen Politik wissen.

Und schließlich sehen wir es viertens als wichtige Aufgabe an, jeglicher Gleichsetzung von links und rechts eine Abfuhr zu erteilen. Rechtsextremisten und Neofaschisten kritisieren die herrschende Politik, dass sie nicht brutal ge-nug nationale Interessen gegen alle anderen durchsetzt, dass die Leute zu viel und die "Leistungsträger" - sprich: das große Kapital - nicht alles zu sagen haben. Sie stellen den Kapitalismus nicht, wohl aber den bürgerlichen Rechtsstaat in Frage. Damit zielen sie mit rechtsextremer Konsequenz in einen Widerspruch, den die bürgerliche Gesellschaft selbst produziert hat: Die einstmals fortschrittliche kapitalistische Produktionsweise setzte sich mit einem Höchstmaß an zivilgesellschaftlichem, vor allem politischem Fortschritt durch. Seit Jahrzehnten aber erweisen sich demokratische Grundrechte, Gewaltenteilung und Parlamentarismus für die Expansionsgelüste des Kapitals immer mehr als Hemmnisse, und die Kräfte und politischen Entscheidungen mehren sich, die im Demokratieabbau - wie im Sozialabbau - eine wesentliche Schubkraft für Wirtschaftswachstum und wirtschaftliche Überlegenheit sehen. Insofern ist die Rechte - einschließlich der Neonazis - nichts anderes als die konsequenteste Verfechterin von ureigenen Interessen des Großkapitals.

Völlig im Gegensatz zu dem steht die Linke. Trotz aller Zerrissenheit proklamiert sie den radikalen Ausbau der demokratischen und sozialen Grundrechte, fordert sie deren Einklagbarkeit, kämpft sie um die Entkrustung des Parlamentarismus durch die Kopplung mit basisdemokratischen Formen, tritt sie für die Aufsprengung nationaler Sichtweisen und die Umgestaltung der internationalen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen nach globalen Prioritäten und dem Grundsatz der Chancengleichheit ein. Das steht nun tatsächlich im Gegensatz zu den Interessen des Großkapitals, und das erklärt auch, warum die Linke besonders bekämpft wird. Deshalb ist die Gleichsetzung von links und rechts falsch, aber politisch gewollt. Die Linke soll mit dem Schlimmsten, was der größte Teil der Menschheit kennt, gleichgesetzt und diffamiert werden. Es sollen Vorwände durch diese Gleichsetzung geliefert werden, die Linke massiv zu bekämpfen, einen ebensolchen Kampf gegen die Rechtsextremen vorzutäuschen und in aller Stille die Rechte zu schonen. Doch die Auseinandersetzung mit der Links-Rechts-Gleichsetzung ist nicht schlechthin intellektueller Natur. Eine wirksame Überzeugung von der Haltlosigkeit einer solchen Gleichsetzung kann nur erfolgen, wenn immer mehr Menschen ganz konkrete Erfahrungen mit unserem antifaschistischen, antirassistischen und basisdemokratischen Engagement machen können. Insofern kommt es - und das sollte uns allen im Vorfeld des 8. Mai 1995 besonders bewusst sein - auf jede und jeden von uns an. Dieser Herausforderung sollten wir uns stellen.

Petra Pau ist Landesvorsitzende der Berliner PDS; Dr. sc. Peter-Rudolf Zotl ist Vorsitzender der PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus.
 

 

 

1994
www.petra-pau.de

 

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