In Bewegung war alles - und das Ziel?

in: Disput, 2. Januar-Heft 1991

In Berlin-Hellersdorf scheint für die PDS alles in Ordnung zu sein: Gregor Gysi erhielt die meisten Wählerstimmen im Bundestagswahlkreis Hellersdorf-Marzahn, ein Viertel aller Wähler stimmten für unsere, auch in Hellersdorf von allen etablierten Parteien verteufelte PDS, ein Direktkandidat (unabhängiger Linker auf der Liste der Hellersdorfer PDS) gewann die Wahl in einem Hellersdorfer Neubaubezirk und zieht in das Berliner Abgeordnetenhaus ein. Viele Genossinnen haben in den letzten Wahlen (neben Beruf oder Umschulung) ihre ganze Kraft im PDS-Wahlkampf eingesetzt.

Mit einigem Abstand zum Wahltag stellen sich allerdings Fragen zum Wahlergebnis und zum Sinn der Aktivitäten der letzten Wochen. So haben wir zwar viele Mitglieder und Sympathisanten und Berge von Papier und Werbematerialien bewegt, aber programmatisch sind wir nicht vorwärtsgekommen, und andere haben wir zuwenig „mitgenommen“.

Es zeigt sich m. E. ein Grundproblem unserer bisherigen Entwicklung: Aus unterschiedlichsten Gründen ist es uns nicht genügend gelungen, Inhalte unserer Partei neu zu bestimmen und politikfähig umzusetzen. Bisher zeichnete sich unser Weg zu einer neuen sozialistischen Partei mehr durch Konzeptionslosigkeit und Resignation aus, als durch einen offensiven, toleranten Diskussionsprozess.

Ich persönlich hatte die Hoffnung, dass es gelingt, über unvermeidlichen Aktionismus hinaus den begonnenen Diskussionsprozess zur Vision eines demokratischen Sozialismus, zur Perspektive der Linken und zum Selbstverständnis fortzuführen und dabei auch mehr aktive Mitstreiter zu gewinnen. Dazu kam die Erwartung, über Mitglieder der PDS hinaus Bürger zu erreichen, ihre Erwartungen an linke Politik zu ergründen und auch ihre Interessen mit unseren programmatischen Ansätzen zu treffen. Das ist nur hier und dort gelungen, wenn wir auch viele inhaltliche und organisatorische Wahlkampferfahrungen der Basis im Stadtbezirk, in Berlin und in der PDS insgesamt erst noch „erfragen“, „zur Kenntnis nehmen“ und vor allem gemeinsam nutzen müssen.

Viele Wahlveranstaltungen gerieten zu Mitgliederversammlungen der jeweiligen Basisorganisation. Eine Ursache sehe ich darin, dass zwar Bürger zu uns eingeladen wurden, wir aber nicht zu ihnen gingen bzw. dies einigen Abgeordnetenkandidaten und einigen wenigen Genossinnen überließen - sieht man mal von den sicherlich wichtigen Familiengesprächen ab. Dazu kam die jeweilige Thematik, die oftmals an einen „Warenhauskatalog“ erinnerte und nicht den Nerv traf.

Zu beachten ist auch, dass wir nicht nur keine neuen Wähler gewonnen, sondern in unserer „linken Hochburg“ Hellersdorf potentielle Wähler verloren haben. Viele „Linke“ haben nicht gewählt. Das bedeutet auch, dass wir zu wenig getan haben, um sie zu gewinnen bzw. zu halten.

Wie nun weiter mit der Partei und linker Politik in Hellersdorf?
Ein Grundanliegen muss Bürgernähe der Partei, ihrer Mitglieder sein. Wir als Genossinnen der PDS müssen uns mehr und mehr als gleichberechtigte (wenn auch oft noch ausgegrenzte) Bürgerinnen dieses (neuen) Deutschlands verstehen, die angetreten sind, Bürgerlnneninteressen zu vertreten, linke Politikangebote zu unterbreiten, sie zu diskutieren, sie mit demokratischen Mitteln parlamentarisch und außerparlamentarisch durchzusetzen. Dabei müssen wir auch unseren Kritikern, politischen Gegnern und Sympathisantinnen zubilligen, uns kritisch zu begleiten. Unsere Existenzberechtigung als Linke können wir uns nur täglich in der Auseinandersetzung mit anderen politischen Kräften um die konsequente Durchsetzung von BürgerInneninteressen erstreiten.

„Für andere da sein“ ist ein hoher Anspruch, der nicht mit Besserwisserei oder Märtyrertum gleichgesetzt werden darf! Eine Frage muss immer unser Handeln bestimmen: Wie treten wir mittels unserer Konzepte und Aktivitäten den Beweis an, dass dieser Stadtbezirk, dass Berlin, dass dieses Land uns braucht? Wir sollten uns nun endlich die Zeit nehmen, die genannten Fragen zu diskutieren und dies mit einer tiefgründigen Analyse der Wahlergebnisse zu verbinden. Dazu gehören Fragen wie:

- Wer hat uns gewählt und warum?
- Wer hat uns nicht gewählt und warum?
- Was erwarten die Bürger von uns? Welche Fragen spielten in den Wahlveranstaltungen eine besondere Rolle?
- Welche Genossen bereiten wir als zukünftige Kandidaten vor?

Die nächste Wahl findet spätestens im Frühjahr 1992 statt. Ich denke dabei an die zerbrechliche große Koalition von CDU und SPD im Berliner Abgeordnetenhaus und an die Berliner Stadtbezirke.

Wenn es uns gelingt, die Konturen einer modernen sozialistischen Partei bis 1992 auch nach außen sichtbar auszuprägen und Persönlichkeiten, die diese Programmatik verkörpern, bekannt zumachen, wird es nach meiner Überzeugung gelingen, auch ein starkes „parlamentarisches Standbein“ zu etablieren.

Petra Pau
Stellv. Kreisvorsitzende der PDS Berlin-Hellersdorf Abgeordnete der
Bezirksverordnetenversammlung

 

 

1991
www.petra-pau.de

 

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