Das NSU-Desaster liegt tiefer

Gewalt wird immer häufiger als Problemlöser akzeptiert – in der Mitte der Gesellschaft

Disput 1/2013
Berlin, 23. Januar 2013

Von Petra Pau

Es war zu Nikolaus, am 6. Dezember 2012. Die Agenturen meldeten: Ministerpräsidenten der Bundesländer haben sich auf ein erneutes NPD-Verbotsverfahren geeinigt. Tags zuvor hatte eine andere Nachricht für Furore gesorgt. Demnach hatte sich gerade ein führender NPD-Funktionär als V-Mann geoutet. Der Verfassungsschutz in Thüringen habe ihn bis 2010 gut bezahlt und obendrein befürwortet, dass seine Kameraden DIE LINKE im Landtag unterwandern. Und Jusos. Und Gewerkschaften. Von Amts wegen.

Am selben 6. Dezember 2012 wurde publik: Der eiserne Briefkasten am Wahlkreisbüro von Sebastian Edathy (SPD) wurde gesprengt. Er ist Vorsitzender im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags, in dem ich für DIE LINKE mitarbeite. Das Landeskriminalamt untersuche, hieß es in einer ersten Erklärung. In einer zweiten war von „Sprengstoff“ und „politischem Anschlag“ nicht mehr die Rede. Irgendwer hatte offenbar eingegriffen.

Wie am 9. Juni 2004 in Köln. Damals gab es einen NSU-Nagelbombenanschlag in der Keupstraße. Er traf über zwanzig Deutsche mit türkischer oder kurdischer Biografie, zum Teil lebensgefährlich. Gezielt zufällig. Ein terroristischer Anschlag, hieß es. Eine Stunde später wurde korrigiert, nein, es ginge um Organisierte Kriminalität. Tags darauf schloss Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) einen rechtsextremen Hintergrund definitiv aus.

Der erste Mord des Nazi-Trios Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe datiert auf den 9. September 2001. Enver Simsek, ein Blumenhändler, wurde regelrecht hingerichtet. Weitere folgten, in Bayern, in Hamburg, in Mecklenburg-Vorpommern, in Niedersachsen, in Nordrhein-Westfalen. Acht der Hingerichteten hatten türkische, einer griechische Wurzeln. Neun Mal Migranten! Das nahe liegende Motiv „Rassismus“ wurde nahezu komplett ausgeblendet.

Aufgeklärt, wenn überhaupt, wurde die Mordserie erst posthum, als sich Böhnhardt und Mundlos am 4. November 2011 nach ihrem 15. Banküberfall, diesmal in Eisenach, selbst hinrichteten. Jedenfalls soll es so gewesen sein. Die regionale Polizei hatte sie eingekreist. Alle Sonderkommissionen mit hunderten Ermittlern aus Bund und Ländern vordem waren gescheitert. 13 Jahre lang. Warum und woran eigentlich?

Was Türken so tun

Die offiziellen Antworten sind schlicht. Man habe in alle Richtungen ermittelt, also auch bezüglich Organisierter Kriminalität. Für rechtsextreme Anschläge aus rassistischen Motiven habe es keinerlei Hinweise gegeben, nicht einmal ein Bekennerschreiben. Tatsächlich wurde nur nach Schutzgelderpressern oder Drogendealern gesucht und fast nie im militanten Nazi-Milieu. Verdächtigt wurden die Hinterbliebenen der Opfer, also vorwiegend Türkinnen und Türken.

Zur Illustration: Die Polizei in Nürnberg ließ einen Dönerimbiss eröffnen. Dem „getürkten“ Betreiber gaben sie auf, nach kurzer Zeit die bestellte Ware nicht mehr zu bezahlen. Das, so unterstellte man, würde den Lieferanten erzürnen. Möglicherweise beauftrage der dann einen Killer, vielleicht sogar den lang Gesuchten. Also was Türken halt so tun, wenn sie nicht gerade ihre Frau schlagen oder ihre minderjährige Tochter verheiraten.

Käme der mordlüsterne „Ali“, so die List, dann schnappe die Falle zu. Eine unglaubliche Geschichte? Das dachte ich auch. Bis sich herausstellte: In München hatte die Polizei dasselbe versucht. Ich unterstelle keinem Kommissar, dass er Rassist sei, habe ich im Plenum des Bundestags gesagt. „Aber die Ermittlungen hatten rassistische Züge.“ Und: „Die These, man habe vorurteilsfrei in alle Richtungen ermittelt (...) stimmt einfach nicht.“

Trägt wenigstens die Behauptung, es habe keinerlei Hinweise in die Naziszene und zum NSU-Trio gegeben? Nach unseren bisherigen Untersuchungen wankt sie heftig. Auch hierzu ein Beispiel. Böhnhard, Mundlos und Zschäpe waren in den 1990er Jahren als Nazis längst polizeibekannt. Propagandadelikte gingen auf ihr Konto, auch Sprengstoffattentate, antisemitische obendrein. 1998 tauchten die drei ab. Bundesweit wurde nach ihnen gefahndet. Erfolglos.

2012 untersuchte der ehemalige Bundesrichter Gerhard Schäfer im Auftrag der Landesregierung, was Thüringer Sicherheitsbehörden seinerzeit über das „verschwundene“ Nazi-Trio wussten. Der nach ihm benannte „Schäfer-Bericht“ attestiert dem Landesamt für Verfassungsschutz Totalversagen. Oder sollte man besser sagen, fahrlässige Mittäterschaft? Im Untersuchungsausschuss des Bundestages listete er auf, was damals aus verschiedenen Quellen bekannt war:

Drei militante Nazis sind im Untergrund. Sie haben Geldsorgen. Sie schützen sich mit fremden Pässen. Sie suchen Waffen. Sie wurden in Sachsen gesichtet. Sie bräuchten plötzlich kein Geld mehr. Sie planen weitere Anschläge. Und so weiter. Alle Teile des Puzzles blieben unsortiert und als Geheimnis streng behütet, so Schäfer. Keinerlei Hinweise erreichten je die Fahnder der Polizei. Der Verfassungsschutz schützte sein Wissen und damit eine Mörderbande.

Nein, das war keine Thüringer Spezialität. Der Bayerische Verfassungsschutz ließ die Sonderkommission im Freistaat genauso im Unklaren. In Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt hatten die Inlandsgeheimdienste weitere Hinweise. In Hessen verhinderte der damalige Innenminister, dass ein verdächtigter Verfassungsschützer und seine V-Leute in einem NSU-Mordfall von der Polizei vernommen werden. Quellenschutz rangiert vor Kriminalermittlungen! Das gilt noch immer und wird - trotz NSU-Fiasko - weiter politisch geheiligt.

Es ist verflucht oder normal: Je mehr wir aufklären, umso mehr Fragezeichen öffnen sich. Nachdem das NSU-Nazi-Mord-Trio aufflog, rieselte viel Asche auf amtliche Häupter. Danach wurden Akten geschreddert - beim Bundesamt für Verfassungsschutz, im Bundes-Innenministerium, in zahlreichen Landesbehörden. Alle wussten: Jede vernichtete Seite wird als Skandal kommentiert werden. Sie taten es dennoch. Was also konnte noch Schlimmeres in ihnen stecken? Über Nazis, über Geheimes, über Behörden?

Übrigens und gern verschwiegen: Bevor Enver Simsek im September 2001 von der NSU-Bande hingerichtet wurde, gab es im vereinten Deutschland bereits 105 Tote - erschlagen, erstochen, erschossen, verbrannt - aus rechtsextrem-rassistischen Motiven, in Ost und West, in Nord und Süd. Das haben Journalisten recherchiert. Die NSU-Nazi-Mordserie mag einzigartig sein, aber sie ist keine Ausnahme in einer ansonsten heilen Welt.

Die Mitte der Gesellschaft

Soweit die eine Perspektive, aber es gibt eine zweite. Professor Heitmeyer und sein Team haben „Deutsche Zustände“ untersucht, zehn Jahre lang. Sein Fazit: Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nimmt zu. Gewalt wird immer häufiger als Problemlöser akzeptiert. Damit meinen sie nicht den extremrechten Rand, sondern die Mitte der Gesellschaft. Als Hauptursache benennt Prof. Heitmeyer: Das Soziale wird ökonomisiert, die Demokratie wird entleert.

„Die Mitte im Umbruch“ heißt eine weitere Studie zu rechtsextremen Einstellungen. Wissenschaftler haben sie für die „;Friedrich-Ebert-Stiftung“ vorgestellt. Auch sie schlagen Alarm. Sie verweisen auf beschleunigte globale Entwicklungen und die damit für viele „beständige Erfahrung von Ungewissheit“. Zukunftsangst grassiert. Die Reichen werden reicher, die Armen zahlreicher, die viel zitierte gesellschaftliche Mitte zerfällt.

Genau da greifen Nazis an: mit nationalistischen und ausländerfeindlichen Parolen. „Mehr Politik wagen“ fordern dagegen mahnende Wissenschaftler - einen flächendeckenden Mindestlohn, Konzepte für ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie eine Neuverteilung und Neubewertung von Arbeit. Schließlich plädieren sie für „mehr Europa, aber anders, nämlich sozial und demokratisch“. Aktuell geschieht das Gegenteil.

Das NSU-Desaster der Sicherheitsbehörden ist offenbar. Aber die Probleme liegen tiefer. Sie betreffen die Politik generell. Und das Gros der Gesellschaft. Doch darüber schweigt „die erfolgreichste Bundesregierung seit der Wiedervereinigung“ (aktuelles Zitat Angela Merkel) gefährlich stumm.

Petra Pau ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und gehört für DIE LINKE dem Untersuchungsausschuss zur Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund an.
 

 

 

23.1.2013
www.petra-pau.de

 

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