„Die Alternative liegt vor uns“

Die PDS am Beginn einer weiteren Etappe ihrer Erneuerung
Diskussionsangebot
am 22. 05. 2000 unterbreitet von Petra Pau, PDS-Landesvorsitzende Berlin

Die PDS ist seit ihrem Parteitag von Münster in einer schwierigen Situation. Der Begriff „Krise“ ist angemessen. Sie ist nicht aufzulösen, indem wir Münster „bewältigen“. Sondern nur, indem wir uns aus der Binnenfixiertheit lösen und uns im Wechselspiel mit der Gesellschaft selbstbewusst und politisch bewegen. Insofern richten wir zuerst den Blick auf den nächsten Bundesparteitag in Cottbus - und mit diesem Interesse den Blick auch zurück auf Münster und auf zehn Jahre PDS-Geschichte.

Sicher: Die Ankündigungen von Lothar Bisky und Gregor Gysi, nicht wieder für ihre derzeitigen Spitzenämter zu kandidieren, haben die Öffentlichkeit stark und zu recht bewegt. Die Partei selbst hat dies bisher in eine einseitig auf PDS-Personalia fixierte Debatte gestürzt. Sicher: Keine der in der Nachfolgediskussion öffentlich und parteiintern gehandelten Personen kann die beiden mit ihren spezifischen Stärken und Fähigkeiten ersetzen.

Doch es ist zu einfach, unsere Probleme auf eine Führungskrise zu reduzieren, ausgebrochen, weil Lothar Bisky und Gregor Gysi zurück treten. Zumal dies erwartetet werden konnte und musste, wenn auch nicht unbedingt in dieser Art. Die Frage, wie die PDS ohne ihre Doppelspitze Gysi-Bisky agieren und wahrgenommen wird, steht schon länger. Das von mir respektvoll angefügte Zitat, „wo viel Licht ist, ist viel Schatten“:, ist noch älter.

In der Ära „Gysi/Bisky“ hat sich nicht nur die PDS entwickelt und verändert, sondern auch die Gesellschaft, in der sie wirkt. Zu fragen ist, ob die Entwicklung der PDS mit den gesellschaftlichen Veränderungen insofern Schritt hält, dass wir unserem gesellschaftlichen Oppositionsverständnis auch künftig und wirksamer gerecht werden können? So spannend es für die Medienwelt sein mag, ob die „Spitzen“-Nachfolge nun Zimmer, Bartsch, Claus oder Pau heißen, so nachgeordnet bleibt dies vorerst für die Generalfrage: Kann die PDS trotz unterschiedlicher Zugänge von Strömungen, Gruppen und Plattformen ihre offensichtlichen Differenzen zu Politikinhalt, Politikstil und Politikmethode produktiv machen und wie?

Die Antwort darauf setzt mehr inhaltlichen Streit voraus, jenseits bloßer ideologischer Bekenntnisse. Peter Porsch, PDS-Landesvorsitzender Sachsens, hat dazu Mitte Mai ein Diskussionsangebot unterbreitet. Von Helmut Holter und Dieter Hausold, PDS-Landesvorsitzende in Mecklenburg-Vorpommern bzw. Thüringen, liegen seit längerer Zeit entsprechende Papiere vor. Aus Sachsen-Anhalt gibt es seit September 1999 Thesen zur programmatischen Debatte. Unterschiedliche Angebote mit durchaus kontroversen Ansätzen.

Hinzu kommen wissenschaftlich oder empirisch gestützte Analysen aus und außerhalb der PDS. Kurzum: Eine grundlegende Debatte ist überfällig und die Zeit bis zum Cottbusser Parteitag nimmt rasend ab. Eine meiner Thesen ist: „Münster“ war nur bedingt eine Zäsur, „Cottbus“ verlangt eine Zäsur. Nicht alle Weltprobleme, nicht einmal alle „Sorgen“ der eigenen Partei lassen sich bis dato aufrufen, geschweige denn lösen. Aber eigene Defizite abbauen und Gemeinsamkeiten festigen, unter diesem Anspruch wird keine der abstrakt zitierten Chance zu finden sein, die in Krisen stecken sollen.

I. Die nächste Phase der Erneuerung ist überfällig

Viele - innerhalb und außerhalb unserer Partei - fragen sich derzeit: Was ist mit der PDS los? Verspielt sie ihre Chancen? Haben wir uns in ihr getäuscht? Fällt sie hinter ihren erreichten Stand der Erneuerung zurück? Gar um zehn Jahre, wie von André Brie nach „Münster“ kommentiert?

Es gibt gute Gründe, diese Fragen mit Nein zu beantworten. Aber die damit verbundenen Sorgen und Zweifel haben auch reale Hintergründe. Lothar Bisky hat auf der Bundeskonferenz im November 1998 darauf hin gewiesen, dass der Erneuerungsprozess der PDS noch nicht abgeschlossen ist. Das ist richtig. Natürlich prinzipiell, denn wer eine sich verändernde Gesellschaft erneuern will, darf nicht in sich selbst ruhen. Aber auch faktisch, denn die seit einiger Zeit herangereifte Aufgabe, nämlich eine weitere Phase der Erneuerung PDS einzuleiten, ist zwar formuliert, nicht aber praktiziert worden.

Das folglich missliche Ergebnis ist beim Bundesparteitag in Münster zu Tage getreten. Peter Porsch fasste dies in eine treffende Diagnose:

„ Wie auch immer man dazu steht, unsere Entscheidungen sind nicht das Problem. Wir haben Probleme, in deren Kontext wir Entscheidungen fällen. Das ist die Schwierigkeit. Es gibt offensichtlich recht fundamentale Differenzen zu Politikinhalt, Politikstil und Politikmethode.“

Die mediale Öffentlichkeit „bewertet“ die Politikfähigkeit der PDS in der Regel danach, ob sie ähnliche Prozesse der Unterwerfung unter reale oder vermeintliche Sachzwänge durchläuft, wie SPD oder Bündnis 90/Die Grünen. PDS-intern wird nahezu jeder neue Gedanke unter den Verdacht prinzipienloser Anbiederung  an den neoliberalen Zeitgeist gestellt. In diesem Sinne sind die viel gescholtenen bürgerlichen Medien und prinzipiellen Opponenten aus der PDS, etwa der KPF, oft zwei Seiten der selben Medaille. Sie befördern innerparteiliche Denk- und Diskussionsblockaden.

Seit 1995 gab es von verschiedenen Seiten Vorstöße, die darauf zielten, dass die PDS sich dieser Probleme bewusst wird und einen produktiven Umgang damit findet. Erinnert sei an die Debatte um den „Brief aus Sachsen“, aber auch an den in diesem Zusammenhang entstandenen „Brief aus Berlin“ (PID 49/1998). Kerngedanken aus letzterem seien hier noch einmal angeführt, um so zu beschreiben, warum wir es mit einer Hängepartie zu tun haben und worauf die verzögerte weitere Phase der Erneuerung zielen muss:

Der offene pluralistische Streit um verschiedene inhaltliche Positionen, Konzeptionen und Vorschläge wird immer mehr zur Voraussetzung für eine lebendige PDS, für eine sich weiter erneuernde, sozialistische Partei. Gerade deshalb ist uns daran gelegen, demokratische Wege und produktive Strukturen zu finden, in denen um Inhalte und nicht primär um Personen gestritten wird, in denen Argumente geschätzt und Andersdenkende nicht diffamiert werden. Viele Mitglieder der PDS stellen verärgert fest, dass in ihrer Partei allzu oft Entscheidungen an ihnen vorbei oder über sie hinweg getroffen werden, dass immer öfter via Medien über sie geredet wird, statt mit ihnen. Mit Befremden werden auch Machtspiele vermutet, wo Sachgespräche erforderlich wären. Wir meinen: Der inhaltliche Widerstreit muss ausgetragen, er darf nicht länger verdrängt werden! (...)

Die PDS steht am Beginn einer neuen Entwicklungsphase. Sie wird bestimmt von einer Reihe neuer, äußerer und innerer Faktoren, auf die die Partei, wie wir meinen, noch unzureichend vorbereitet ist. Daraus resultieren innerparteiliche Konflikte, die sich in den letzten zwei Jahren angedeutet haben. Dabei geht es im wesentlichen um folgende Fragen: Wie und mit wem können wir die konservative Hegemonie brechen? In diesem Zusammenhang bleibt auch unser Oppositionsverständnis zu konkretisieren. Wie definieren wir das Verhältnis ostdeutscher Interessenvertretung zu unserem bundespolitischen und sozialistischen Anspruch? Davon hängt auch ab, welcher Stellenwert dem Westaufbau der PDS gebührt und wer dabei unsere PartnerInnen sein könnten. Wie geht es mit der inhaltlichen und organisatorischen Erneuerung weiter? Antworten darauf berühren auch die demokratische Verfasstheit der PDS.

Entwickelt sich die PDS primär zu einer mediengeleiteten Wahlkampfpartei oder zu einer gesellschaftlich verankerten offenen Mitgliederpartei? (...)

Gleichzeitig ist die PDS gezwungen, Konzepte für die Tagespolitik zu entwickeln. Bei alldem können wir Kräfteverhältnisse und politische Handlungsrahmen in der Gesellschaft weder ignorieren noch außer Kraft setzen - wohl aber beeinflussen.

In einer Herausforderung scheinen sich alle Strömungen der PDS einig: Es gilt, die konservative Hegemonie in der Bundesrepublik zu brechen. Leider hat es sich in letzter Zeit durchgesetzt, die dafür notwendige Diskussion verengt zuzuspitzen, und zwar eindimensional auf die Regierungsfrage. Was auch dazu führt, dass die Kontroverse häufig als Realo-Fundi-Konflikt interpretiert wird. Eine Falle, wie wir meinen. Hinterlässt diese ideologische Zuspitzung doch den fatalen Eindruck, zwischen „ Sachzwang-orientierter Realpolitik“, die sich beispielsweise mit kommunalen Nöten befasse, und „sektiererischer Radikal-Opposition“, die ein ferneres, sozialistisches Ziel im Blick habe, existiere kein Millimeter Spielraum. Die innerparteilichen Debatten drohen sich so in einem unbeweglichen Entweder-Oder selbst zu blockieren. Genau der Spielraum zwischen Tagespolitik und sozialistischer Vision aber ist jener, den wir beanspruchen. Er gehört zum Minimalkonsens der PDS und kann sie im politischen System der Neu-BRD unterscheidbar machen - zur SPD und den Grünen auf der einen, zu kommunistischen Kleinparteien auf der anderen Seite.

An Versuchen, die PDS nach „Strömungsgeografien“ zu beschreiben oder zu sortieren gibt es keinen Mangel. Erinnert sei an Gregor Gysis Beschreibung aus dem Jahre 1992, wonach er in der PDS vier Gruppen ausmachte. Egal, wie treffend die damalige Beschreibung und wie notwendig die Gruppenbildung seinerzeit für die Erneuerung und ldentitätsstiftung der PDS gewesen sein mag - die PDS hat sich weiter entwickelt. Gerade die Diskussionen über die Regierungsfrage und das Oppositionsverständnis der PDS haben neue innerparteiliche Konstellationen hervorgebracht. Mit anderen Worten:

Die neuen Herausforderungen, vor denen die PDS steht, spiegeln sich auch in innerparteilichen Kräfteverhältnissen, wenngleich inhaltlich oft noch sehr unbestimmt.

Die PDS ist eine pluralistische Partei. Was auch heißt: Sie befindet sich in einer permanenten Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen ideologischen Ansätzen. Seit Bestehen der PDS resultieren daraus politische Konflikte. Im Kern kreisen diese um Fragen der Erneuerung, um Einschätzungen zur DDR-Geschichte, folglich um unser Sozialismusverständnis. Daraus abgeleitet, aber durchaus auch dazu querliegend, werden parlamentarische und außerparlamentarische Tätigkeiten unterschiedlich bewertet, politische Schwerpunkte verschieden gesetzt, BündnispartnerInnen voneinander abweichend gesucht, Zielgruppen kontrovers bestimmt. Bislang dokumentierte sich dieser Richtungspluralismus innerhalb der PDS noch am klarsten durch die Existenz von Plattformen, Foren, Arbeitsgruppen und Mehrheitsentscheidungen auf Parteitagen. Doch die wachsende Bedeutung der PDS (vor allem im „Osten“) und deren zunehmende Beachtung durch die Medien haben die vermeintliche „Ordnung“ durcheinandergebracht, Gewichte verschoben. Zwar existieren die verschiedenen Gruppen weiter. Ihre Bedeutung für den innerparteilichen Meinungsbildungsprozess aber hat abgenommen. Statt dessen dominieren einzelne ExponentInnen verschiedener Positionen die öffentliche Auseinandersetzung. Die Medien reduzieren diese Wandlungen auf die Bildung zweier „Lager“. Diese, für einen sachlichen und pluralistischen Diskurs innerhalb der Partei, ohnehin schwierige Situation wird durch verschiedenartige äußere Anforderungen komplettiert - je nachdem, ob kommunale-, Landes- oder Bundesfragen anstehen, je nachdem, welche WählerInnenklientel, Gruppen und Initiativen mitbestimmend werden.

Aber nicht diese - äußerst spannende - Vielfalt treibt uns um. Sondern die Frage: Was ist deren Kern, worin besteht das identitätsbündelnde und -vermittelnde „Zentrum“ der PDS? Dies umso mehr. da die sogenannte Regierungsfrage eine ganze Reihe weiterer ungeklärter Fragen der PDS, ja der Linken überhaupt, überdeckt. Dazu gehören das Verhältnis zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ebenso wie das zum Staat, zum Parlamentarismus und zur Macht. Oder jene nach dem vielgesuchten Subjekt gesellschaftlicher Veränderungen. Wie weit und wohin sollen gesellschaftliche Veränderungen gehen, wer soll sie aus Sicht der PDS vorantreiben, an wen richten sich also unsere Reformvorschläge, schließlich: Wo und gegen wen ist Widerstand unerlässlich?

Anstatt diese Fragen im solidarischen Diskurs zu klären, wird der innerparteiliche Streit mehr und mehr nach den Spielregeln der Mediengesellschaft ausgetragen. Während die einen permanent „Verrat“ und „Sozialdemokratisierung“ wittern, schimpfen sich andere ihren Frust über vermeintliche „Poststalinisten“ oder „Dogmatiker“ von der Seele. Folgerichtig entsteht so der Eindruck, die Erneuerung der PDS, die Aufarbeitung „ihrer“ Geschichte und der Diskurs über eine originäre PDS-Strategie orientieren sich nicht an eigenen Kriterien sozialistischer Politik, sondern vorwiegend an der Kritik anderer. Als neues Kriterium der Wahrheit und mithin als Maß aller Dinge scheint plötzlich die Regierungsfähigkeit der PDS herhalten zu müssen. So wird der notwendige inhaltliche Diskurs nicht etwa auf die Beine gebracht, sondern - im Gegenteil - auf den Kopf gestellt. Heraus kommt eine unangemessene Bipolarität der Auseinandersetzung, vermeintliche Strömungskämpfe dominieren, während das, was die Partei in ihrer Mitte zusammenhält, auf der Strecke bleibt.“

Diese Passagen aus dem „Brief aus Berlin“ lesen sich heute wie ein Orakel auf „Münster“.

Wir haben es selbst verkündet, aber nicht erhört.

II. Handlungsoptionen sozialistischer Politik suchen

Folgt man dem „Brief aus Berlin“ und der Münsteraner Diagnose Peter Porschs, stellt sich die Frage: Woher kommen die fundamentalen Differenzen zu Politikinhalt, Politikstil und Politikmethode. Und: Wie gehen wir damit um?

Viele Differenzen innerhalb der PDS sind viel älter als sie selbst. Es mischen sich ungeklärte Grundprobleme der Linken insgesamt mit der spezifischen Geschichte des Zusammenbruchs des Realsozialismus und seiner widersprüchlichen Verarbeitung in und bei der PDS.

Andere Differenzen und Unsicherheiten hängen mit den tief greifenden Wandlungen zusammen, die den Kapitalismus gegen Ende des 20. Jahrhunderts charakterisieren und die gerade die ersten zehn Jahre der PDS zunehmend bestimmt haben oder dies haben müssten.

Fragen und Problemen, denen wir nicht ausweichen können.

Die PDS darf die Geschichte nicht ruhen lassen. Nur wenn wir fähig sind, schonungslos Lehren aus dem Scheitern des „Realsozialismus“ zu ziehen, werden wir Zukunftsfähigkeit gewinnen. Nicht, weil der Zeitgeist oder politische Gegner das von uns fordern, sondern weil unsere Konzepte, unsere Strategien, unser  Handeln, wenn auch nicht umfassend, so doch wenigstens weitgehendst fehlerresistent gegenüber strukturell Gescheitertem sein sollten.

Auch innerhalb der PDS vernehme ich ab und an „Verschwörungs- und Verrats-Theorien“, Legenden über Dolchstöße, an denen die DDR, an denen ein Drittel der Weltbevölkerung, die zum sowjetischen Einflusskreis zählten, zerbrochen seien.

Die harten Auseinandersetzungen der Anfangsjahre der PDS haben dennoch zu einem Kompromiss geführt, der im Programm von 1993 und im Statut festgeschrieben sind.

Darin ward festgestellt, dass der Realsozialismus im wesentlichen an seinen Konstruktionsfehlern gescheitert ist.

„Das Scheitern des sozialistischen Versuchs in der DDR ist ursächlich mit dem Scheitern des Modells der Sowjetunion verbunden. (...) Sein Zusammenbruch war eine notwendige Folge seiner zunehmenden Unfähigkeit, das Eigentum an den Produktionsmitteln in einer für den Produzenten spürbaren Weise zu vergesellschaften. Alle Versuche zur Erneuerung des Sozialismus wurden letztlich blockiert. Es gelang nicht die erforderliche ökonomische Effektivität zu erreichen und sie mit wirtschaftlicher und politischer Demokratie sowie konsequenter ökologischer Orientierung zu verbinden.“ (Programm der PDS, 1993)

Unterhalb dieses Kompromisses existieren aber fundamentale Differenzen in der Einschätzung des Ausmaßes der Defizite des Realsozialismus fort. Es sind theoretische Differenzen, die auch ein unterschiedliches Politikverständnis innerhalb der PDS begründen. Oberflächlich äußern sich diese Differenzen in der wechselseitigen Einforderung von Bekenntnissen. Politisch und strategisch aber begründen diese Kompromisse ein Un-Vermögen der PDS, aufgearbeitete Lehren aus dem Scheitern des Realsozialismus glaubwürdig und überzeugend in gesellschaftsverändernde Handlungsoptionen zu übersetzen.

Allein aus der Kritik und der Analyse des gescheiterten DDR-Sozialismus sind keine neuen Handlungsoptionen zu gewinnen. Denn die Alternativen zur heutigen, kapital-dominierten Bundesrepublik liegen vor, nicht hinter uns.

Die zehn Jahre seit dem Ende der DDR sind auch zehn Jahre galoppierender Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland und im globalen Maßstab. Wir erleben eine forcierte Unterwerfung der Gesellschaft unter das Profitprinzip, die Verknüpfung von Kapitalismus und modernster Technologien sowie eine Dominanz des Neoliberalen in der Politik und im Geistesleben, keineswegs nur als elitärer Vorgaben, sondern als verbreitete Annahmen.

Die großen Fragen des Sozialismus - die Frage nach dem gerechten Zugriff auf die Lebensquellen der Gesellschaft (einschließlich der Eigentumsfrage), die Frage nach Verhinderung von sozialer Ausgrenzung, die Frage nach emanzipatorischen Machtverhältnissen und die Frage nach einem solidarischen Menschenbild – stellen sich zugleich in neuer Schärfe, ebenfalls im globalem, im nationalen und in regionalen Maßstäben.

Schon in der Diskussion um das Parteiprogramm 1993, aber auch in der aktuellen programmatischen Debatte der PDS, wird eine heftige Auseinandersetzung um den „Moderne“ -Begriff geführt. Die kapitalistische Gesellschaft modern zu nennen, steht innerhalb der PDS oftmals im Verdacht, gegenwärtige Zustände schön zu färben oder zu verharmlosen. Die Entwicklung des Begriffs „moderner Sozialismus“ als Gegenidee wird als modische Anbiederung an die Modernisierungs-Rhetorik der Sozialdemokratie diffamiert.

Was den Moderne-Befürwortern als ein taktisch motivierter Streit um Worte unterstellt wird, entpuppt sich bei tieferer Betrachtung aber als ein Versuch, marxistische Methode zur Klärung strategischer Fragen zurück zu gewinnen. Denn es reicht nicht aus, die Erscheinungsformen kapitalistischer Gesellschaften zu kritisieren und abzulehnen.

Wenn demokratische SozialistInnen sich selbst den Auftrag erteilen, eine Alternative zu den herrschenden Verhältnissen zu erkämpfen, geht das nur durch vorurteilslose Analyse des Vergangenen und des Bestehenden sowie der gesellschaftlichen Bewegungsformen. Von den Verbrechen des Kapitalismus empört und der eigenen Propaganda berauscht, hat sich die Linke allzu oft in einfache Weltbilder geflüchtet.

Schon bei Marx können wir nachlesen, dass die kapitalistische Entwicklung zumindest widersprüchlich ist. Es ist also, vereinfacht gesagt, nicht alles schlecht. Die Reduktion des Kapitalismus auf das Zerstörerische und deshalb zu Überwindende aber, macht es der „ Linken“ so schwierig, der 11. Feuerbach These von Karl Marx gerecht zu werden, nämlich die Welt zu verändern.

„Der Begriff moderne Gesellschaft verweist auf die ungewöhnliche Entwicklungsfähigkeit, die die Epoche insbesondere seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vor allem auszeichnet. Während der Begriff Kapitalismus auf die Herrschaftsverhältnisse der gegenwärtigen Gesellschaft zielt, ist der der Moderne auf die besondere Bewegungsweise dieser Gesellschaft gerichtet. Im Mittelpunkt steht die Fähigkeit der modernen Gesellschaft zur ständigen Veränderung ihrer wirtschaftliche, politischen und kulturellen Verhältnisse, der Produktions- und Lebensbedingungen. Es geht um die Instrumente der Umsetzung von Macht in Entwicklung.

Marx und Engels haben diese beiden Seiten moderner kapitalistischer Gesellschaften gesehen. Für sie waren sie zugleich Ausbeutergesellschaften und sich ständig revolutionierende Gesellschaften, sowohl durch die Herrschaft des Kapitals als auch durch die Fähigkeit zur ständigen Selbstveränderung gekennzeichnet. (...)

Es war die Entwicklungsfähigkeit der kapitalistischen Moderne, der der Staatssozialismus nicht stand zu halten vermochte.“

(Zur Programmatik der PDS, Ein Kommentar, Berlin 97, S. 27)

Die Verwendung des Moderne- Begriffs wird nicht nur zur Analyse der BRD-Gesellschaft und zur Erklärung und Kritik der Innovationsunfähigkeit des Staatsozialismus gebraucht. Sie erfordert auch die immer wieder neue Bestimmung eigener Positionen zu real stattfindenden gesellschaftlichen Prozessen.

Für die weitere Erneuerung der PDS ist dies unerlässlich. Es schließt revolutionären Attentismus und vulgärmarxistische Verelendungstheorien als Politikersatz aus. Die Gegnerschaft zu den herrschenden Verhältnissen beweist sich im Konkreten. Sozialistische Politik muss ihren Ausgangspunkt in der Realität haben. Deshalb muss die programmatische Debatte nicht klären, was früher links oder rechts war, sondern aus den Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart in Ost und West klären, was linke Politik für die Zukunft beinhaltet.

Der Schlagabtausch von Bekenntnisse ist dafür wenig hilfreich, eher kontraproduktiv. Weder das bloße Bekenntnis zum Grundgesetz, noch Voten zum Rechtsstaat oder zur UNO machen uns schlauer.

Es geht „darum, wie wir damit umgehen wollen, was wir mittel- und kurzfristig verändern, entwickeln, begrenzen und im Detail auch abschaffen wollen. Die Aufforderung zum an sich unverzichtbaren Bekenntnis zu den Basisinstitutionen der Moderne einerseits und die konsequenzreiche Kritik an ihrer praktischen Wirkungs- und Bewegungsweise andererseits aber waren in der 1999 begonnenen programmatischen Debatte nicht angemessen ausbalanciert. Das hat auch den Zugang zum eigentlichen Kern der Debatte, der Bestimmung von politischen Handlungsoptionen und damit verbundenen konkreten Reformalternativen, weitgehend blockiert und den Widerstand unterschiedlichster Gruppierungen in der Partei hervor gerufen bzw. reanimiert. Und dies ist die tiefere Wurzel dafür, dass der Einstieg in die Programmdebatte innerparteilich weitgehend ideologisch (Moderne-Streit) und in der Außenwirkung eher unattraktiv war.“(Thomas Falkner, April 2000)

Zusätzlich belastet ist die programmatische Erneuerung der PDS dadurch, dass notwendige Diskussionen von Exponenten verschiedener Richtungen mit Interessensleitungen und Zeckbestimmungen versehen werden, die für die Klärung der Probleme höchstens zweitrangig sind. So ist zum Beispiel die Analyse und Entwicklung von Handlungsoptionen der und gegenüber den Institutionen der Moderne auch unabhängig von der Frage zu klären, ob und wann wir koalitionsfähig sein wollen. Außerdem werden innerparteilich nur Ängste geschürt und Vorurteile bestätigt, wenn Richtungsentscheidungen eingefordert werden, mit dem implizierten Ziel, innerparteiliche Gegner zu marginalisieren und aus der Partei zu drängen.

Auf der anderen Seite ist es geradezu grotesk, dass sich Marxistisches Forum und KPF angesichts  real und aktuell stattfindender radikaler Veränderungen in der Gesellschaft der Überprüfung acht Jahre alter Kompromisse verweigern. Statt eigene Konzepte und Handlungsoptionen zur Debatte zu stellen, wie auf die radikalen Veränderungen durch die Linke zu reagieren sei, orientieren sie auf bloße Bewertungen, was links sei und was nicht.

Dem hält W.F. Haug entgegen, was sich als Präambel für unsere programmatische Debatte anbietet:

„Zu lernen ist die Dialektik der neuen Politikfelder. Was nach wohlerkämpften Kriterien politisch richtig scheint, ist unter den Bedingungen des transnationalen High-Tech-Kapitalismus vielleicht längst nicht mehr richtig politisch. Vielleicht verdient am Ende so manche Auffassung, die man, weil sie es mal  war, für links hält, nicht mehr dieses Attribut. (...) Links IST man nicht, „links“ ist weder ein Sein noch eine Eigenschaft oder gar ein Eigentum, sondern „links ist ein bestimmtes Wirken in einem Kraftfeld im Gegensatz. Man bleibt nicht links, sondern handelt so (greift ein) in immer neue konkrete Situationen. (...)

Links ist es, aus dem sowjetischen Debakel wie aus der postkommunistischen Misere zu lernen. Historisch war es so, dass nach 1917 die Beseitigung der Kapitalherrschaft auf eine Weise aufgerufen wurde, die die Zivilgesellschaft beseitigt hat in beispielloser Ausdehnung des Staates. Links ist alles Handeln, dass Welt aus dem Reich des Privateigentums zurückgewinnt, ohne sie dem Reich des Staatsapparats auszuliefern“

(W. F. Haug: Politisch richtig oder richtig politisch, 1999)

III. Zur Strategie der PDS bis 2002 und danach

Dieter Klein (PDS-Vorstand) gibt folgende Einschätzung der aktuellen strategischen Grundsituation:

„Nach dem Ende der „goldenen 2 ½ Nachkriegsjahrzehnte“ Mitte der 70er Jahre folgte eine Phase des radikalen Neoliberalismus (Reagan, Thatcher, Bush u.a.). Die Wahlerfolge Clintons und der Sozialdemokratie in den meisten westeuropäischen Ländern brachten zum Ausdruck, dass sich eine zweite Phase in der Realentwicklung des Neoliberalismus durchgesetzt hat: Der sozialdemokratisch relativierte, mit seiner früheren Gestalt nicht identische Neoliberalismus, der die sozialen Niveaus auf solche Weise absenkt und durch einen Niedriglohnsektor auf solche Weise womöglich zu mehr Beschäftigung (USA) führt, dass er für längere Zeit die herrschenden Strukturen bewahren könnte, weil er den unteren Teil der Gesellschaft ruhigstellen kann („aktivierender Staat“, Konsenssuche mit Gewerkschaften, staatliche Zuschüsse zum Niedriglohn u.a.). Dieser Typ der modernen bürgerlichen Gesellschaft führt gleichwohl zu weiterer sozialer Polarisierung und ist außerstande, soziale und ökologische Nachhaltigkeit und Frieden zu sichern. Die Großprobleme [Zerstörung der Arbeitsgesellschaft, Zerstörung der Lebensgrundlagen künftiger Generationen, strukturelle Unterentwicklung der Mehrheit der Weltbevölkerung und die Errichtung eines undemokratischen Gewaltmonopols der neuen Großmächte - P. P.]  bleiben ungelöst. Aber eine nahe spektakuläre Krise dieses Neoliberalismus ist nicht absehbar, obwohl z. B. internationale Finanzcrashs mit weitreichenden Folgen nicht auszuschließen sind.“

In Deutschland markieren das politische Scheitern von Oskar Lafontaine im Frühjahr 1999, der Eintritt in den Kosovo-Krieg und die anschließende Entwicklung und die Stabilisierung von Rot-Grün mit den Landtagswahlen Anfang 2000 den Anfangs- und vorläufigen Endpunkt dieses Umbruches zu dem beschriebenen gesellschaftspolitischen Grundtrend. Die Krise der CDU war vor diesem Hintergrund für den Übergang zur zweiten Phase des Neoliberalismus in Deutschland zwar förderlich und wirkte stabilisierend - sie war jedoch nicht bestimmend oder gar ausschlaggebend für die Zukunft von Rot-Grün.

Die gravierenden Veränderungen ihrer strategischen Rahmenbedingungen hat die PDS auf Bundesebene nicht rechtzeitig erkannt und nicht gründlich genug reflektiert. Die Strategiedebatte in der PDS war 1997 versiegt und ist nach dem Regierungswechsel 1998 nicht wieder belebt worden.

Dennoch:

Eine sozialistische Partei entschlossener Opposition, die Druck von links ausübt, hat angesichts dieser Entwicklungen eine unverzichtbare Funktion in der Gesellschaft. Ihre Oppositionspolitik und ihr Druck auf die Regierenden müssen strategisch darauf zielen, die Mehrheitsverhältnisse in der Gesellschaft, in Ost wie West, zu verändern und für einen tiefgreifenden Politikwechsel auch gegenüber der jetzigen rot-grünen Politik in Berlin zu öffnen. Veränderte Mehrheitsverhältnisse müssen in der Perspektive stabil einen Mitte-Links-Block des sozialökologischen Umbaus, der Solidarität, der Emanzipation und des Friedens tragen - und zwar bundesweit und zugleich EU-weit handlungsfähig sowie von unten, von den Kommunen und den Ländern her fundiert werden.

Doch für 2002 ist ein solcher Mitte-Links-Block des sozialökologischen Umbaus, der Solidarität, der Emanzipation und des Friedens auf Bundesebene nicht in Sicht. Entschlossene Opposition wird daher bundespolitisch längerfristig die gesellschaftliche Grundforderung an die PDS sein. Zugleich kann die PDS im Osten ihren politischen Mit- und Umgestaltungsanspruch auch in Form von Regierungsbeteiligungen nicht aufgeben, wenn sie nicht auch ihren alternativen politischen Anspruch auf soziale Gerechtigkeit und damit wesentliche Komponenten ihre Legitimation gegenüber der Gesellschaft preisgeben will.

Gesellschaftliche Opposition, politischer Mit- und Umgestaltungsanspruch sowie demokratischer und sozialer Widerstand - das muss, wie es in Münster gefordert wurde, als bestimmendes Dreieck sozialistischer Politik verankert werden.

Wenn wir uns in diesem problematischen Dreieck verantwortungsbewusst und politisch wirkungsvoll bewegen wollen, dann brauchen wir Kriterien dafür, wie wir unser Handeln ausrichten wollen - Kriterien, die für die Gesellschaft nachvollziehbar und einsichtig sind, auf deren Grundlage wir parlamentarisch und außerparlamentarisch in Aushandlungsprozesse eintreten können.

Dazu ist es notwendig, dass die PDS klar und deutlich zwischen Handlungszwängen und Sachzwängen unterscheidet. Für die Politik der anderen Parteien sind beide Begriffe verbunden mit Einengungen von Spielräumen. Sie sollen Nicht- bzw. einseitig interessenorientiertes Handeln begründen. Tatsächlich ergeben sich aber - unabhängig vom politischen Wollen und subjektiven Können - politische Handlungszwänge. Sie sind Ausdruck drängender Notwendigkeiten - so vor allem der Überwindung sozialer Zuspitzungen, Polarisierungen und Ausgrenzungsprozesse sowie des Umbaus der Gesellschaft nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit.

Was dem gegenüber im politischen und gesellschaftlichen Raum als „Sachzwänge“ behandelt wird, sind vor allem:

• 

begrenzte  bzw. zurück gehende Finanzrahmen (per Entscheidung der übergeordneten Ebene bzw. per „eigener“ Konsolidierungsbeschlüsse in Folge Krise der öffentlichen Finanzen).

• 

juristische Vorfestlegungen (Gesetze, Verordnungen, Besitzstandwahrungen, Richterrecht)

• 

Interessen(Hierarchien) - Investorenwerbung etc. „Standort“ als Sachzwang, Klientelismus,

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ideologische Setzungen, tradierte Routinen etc.

• 

Blockaden im Alltagsbewusstsein (Blockaden gg. Brüche in der Lebensweise & Folgen.)

Die PDS muss deutlich machen, wie sie mit diesen Handlungsblockaden bzw. -hemmnissen vor dem Hintergrund der unabweisbaren Handlungszwänge umzugehen gedenkt und wie sie diese Blockaden konkret aus der Welt schaffen will. Damit könnte sich die PDS im Politikstil und im Angebot deutlich von ihren Konkurrenten unterscheiden, die lediglich mit unterschiedlichen Akzenten um Verständnis für „Sachzwänge“ werben. Gelingt dies, dann ist die PDS mit Blick auf die realen Herausforderungen eine radikale Partei.

Im Kern geht es um kräftige Impulse der PDS für ein neues Reformprojekt, das - als Angebot der demokratisch-sozialistischen Linken an die anderen Parteien der linken Mitte formuliert

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linken, oppositionellen Druck auf Rot-Grün als längerfristige Regierungskraft (auch über 2002 hinaus) ausübt,

• 

den Anspruch erhebt, dass die relevanten Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme im Spannungsfeld zwischen SPD, Günen und PDS ausgestritten werden - gegen den Druck der Neoliberalen, der Konservativen und der Rechten - und nicht vorrangig im Bezug auf CDU/CSU und FDP,

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strategisch die Möglichkeit einer Einmischung der PDS in Regierungsbildungen auf Bundes- und Länderebene nicht ausschließt, sondern realistisch erscheinen lässt und an politische Inhalte bindet,

• 

und zugleich deutlich macht, mit welcher Oppositionsstrategie die PDS auf Bundesebene ggf. nach 2002 auftreten und dies über ihre unterschiedliche Verantwortung insbesondere in den ostdeutschen Bundesländer abgestimmt und mit strategischem Atem untersetzen wird.

Für die PDS heißt das, dass sie jetzt und nachhaltig strategische Autonomie gewinnen muss. Es ergeben sich - auch ohne unser Zutun - einschneidende Veränderungen in Verhältnis zwischen den Parteien. Wir sollten aber nicht nur Betroffene dieser Wandlungen sein, sondern ihre Gestalter und Nutznießer werden. Das Verhältnis der PDS zu CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gestaltet sich über Auseinandersetzung, Wettstreit und Kooperation, nicht über Wahlverwandtschaften oder Ausgrenzungsbeschlüsse.

Wenn die Lage so ist, verlieren auch für die PDS alte „ Gewissheiten“ ihre scheinbar ewige Gültigkeit: Die Verortung der PDS in einem Mitte-Links-Lager ist dann keine Selbstverständlichkeit mehr, wenn sich in der beschriebenen Bewegung der Parteien und der Wählerschaften die herkömmlichen politischen Lager auflösen.

Es gibt keine quasi naturgegebenen Partner, auf die hin sich PDS festlegen kann. Die SPD ist zwar im derzeit bundespolitischen Spektrum ein Partner, der uns nah steht. Strategische Partnerschaften stehen jedoch in Abhängigkeit von vorhandenen und erst noch oder erst wieder zu erarbeitenden gemeinsamen strategischen Interessen, Konzepten, Optionen. Kooperationsfähigkeit herzustellen ist nicht allein Sache der PDS - sondern auch Sache möglicher Partner. Sie ist von Inhalten bestimmt, nicht primär von Zeitpunkten.

Stimmt die Annahme, dass die Parteilandschaft in Bewegung ist und dass es keine fixierten Partnerschaften gibt, dann ist die bloße Verdrängung der CDU aus einer ostdeutschen Landesregierung (oder die Verhinderung ihres Eintritts in eine solche Landesregierung) allein auch kein tragfähiges Wahlziel.

Wesentlich ist: Die PDS kann und darf sich nicht auf dem Umweg über ihr Verhältnis zu anderen Parteien selbst bestimmen. Es geht um die Definition der PDS und ihrer strategischen Optionen aus ihrem Verhältnis zu den genannten gesellschaftlichen Großproblemen. Es geht um die Frage, welche Antworten die PDS darauf gibt. Nicht, wie oft unterstellt, andere Parteien mit Verzug zu kopieren, ist der Weg. Sondern gefragt ist ein eigenständiger, sozialistischer,, an dem sich andere abarbeiten können. Nur so können wir perspektivisch als kreativer politischer Partner eine Rolle spielen.

Was die Platzzuweisung für die PDS durch externe Faktoren anbelangt: Sie wird davon abhängen, welches Maß an gesellschaftlicher Zustimmung bzw. Akzeptanz für unsere Projekte und Aktionen entstehen und welcher Druck sich daraus für andere politische Kräfte ergibt. Voraussetzung dafür wiederum bleibt, dass die PDS ihre partielle Binnenfixiertheit aufgibt und konsequent die Gesellschaft in den Blick nimmt.

IV. Was kann, was soll ein PDS-Reformprojekt ausmachen?

Strategische Autonomie muss inhaltlich bestimmt sein. Das ist die parteipolitische Funktion des zu erarbeitenden Reformprojekts. Reformprojekt und strategische Autonomie sind aber kein parteipolitischer Selbstzweck, sondern müssen eine Funktion in Bezug auf die Gesellschaft erfüllen.

Das heißt, die PDS muss Lösungsmöglichkeiten für zentrale, die Menschen bewegende und von anderen nicht hinreichend konsequent bearbeitete Probleme in der Bundesrepublik und darüber hinaus mit Kompetenz aufgreifen - und zwar im Bewusstsein der in diesem Land weiter bestehenden zwei Teilgesellschaften Ost und West.

Das heißt weiter: Die PDS muss eine radikale Politik sozialer Gerechtigkeit vertreten, die ihren Anspruch dadurch begründet, dass sie die gemeinsamen und spezifischen Probleme von West und Ost nicht nur abstrakt bundespolitisch, sondern gleichermaßen unter Aufnahme der Spezifika der beiden Teilgesellschaften und ihrer Wandlungen aufgreift und die besondere, im Osten gewachsene Kompetenz der PDS über den Osten hinaus zur Geltung bringt.

Das heißt einerseits:

Einen besonderen Stellenwert wird für die PDS sowohl angesichts ihrer besonderen regionalen Verankerung als auch - und vor allem - angesichts der weiter bestehenden zwei deutschen Teilgesellschaften weiterhin das Thema Ostdeutschland haben. Aber auch hier gilt nach zehn Jahren PDS, zehn Jahren deutscher Einheit und angesichts voran schreitender europäischer Integration sowie Globalisierung: Ein einfaches „Weiter so!“ kann es nicht geben. Gefordert ist eine besondere Kommunikations- und Diskursleistungen in der ostdeutschen Teilgesellschaft und im Ost-West-Verhältnis.

Thomas Koch hat auf der Tagung der Bundesstiftung Rosa Luxemburg im Dezember 1999 erklärt,

die PDS komme „nicht umhin, zu klären: was sind übergreifende Ostinteressen, wie anerkennungswürdig sind bestimmte Sonderinteressen und was heißt und verlangt es der PDS ab, übergreifende Ostinteressen wirksam zu vertreten und zugleich sich der westdeutschen Gesellschaft zu öffnen?“ Darauf Bezug nehmend stellte Koch sieben aus seiner Sicht „übergreifende ostdeutsche Interessenlagen“ zur Diskussion, die die PDS für ihre strategische Positionierung produktiv machen kann:

•  

das Interesse an einer selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung im Osten

•  

das Interesse an Chancengleichheit im Bund, im Alt-Bundesgebiet und im Osten selbst

•  

das Interesse an gleichen wie an differierenden Lebensverhältnissen

•  

das Interesse an der Verankerung und Gewährleistung liberaler und sozialer Grundrechte

•  

das Interesse an der Wahrung materieller wie immaterieller Ansprüche, die aus der Rechtsordnung der DDR erwachsen sind

•  

das Interesse an der Respektierung der pro sozialistischen Wertbezogenheit ostdeutscher Interessenlagen

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das Interesse der konfessionsfreien Mehrheiten im Osten an der Abwehr einer macht- und institutionengestützten Re-Christianisierung bei gleichzeitiger Akzeptanz innerer Mission.

Diese Interessenlagen sind Interessen des Ostens in und für das vereinte Deutschland. Sie richten sich nicht gegen den Westen, sie sind nicht Forderungen an den Westen, sondern sie zielen auf den Ausbau der demokratischen und sozialen Grundlagen des Gemeinwesens Bundesrepublik, sie richten sich gegen dessen Gefährdungen sowie auf die Öffnung zu tatkräftiger Reformpolitik. Sie sind kompatibel und verhandelbar mit der Mehrheits-Teilgesellschaft West.

Und die PDS bleibt gut beraten, sich auf einer solchen Grundlage weiter als sozialistische Partei der Bundesrepublik mit besonderer Verankerung und Verantwortung im Osten zu profilieren.

Eine, wenn nicht die, praktische Nagelprobe wird nach heute absehbaren Konditionen das Auslaufen der Solidarpakt-Vereinbarungen im Jahr 2004 sein. Und zwar in Verbindung mit den bis dahin im Zuge der Umsetzung des BVerfG-Urteils zum Länderfinanzausgleich entstehenden Bedingungen. Die PDS muss dies aktiv, drängend und deutlich im Kontext ihrer Gesamtpositionierung als bundesweite sozialistische Reformpartei begleiten.

Maßstabsetzend kann dabei die mit dem Rostocker Manifest entwickelte Grundphilosophie sein: die zwei Teilgesellschaften als Möglichkeit gegenseitiger Bereicherung zu begreifen; den besonderen Problemdruck in der Krisenregion Ost als Chance zum Einstieg in und zur Erprobung bundesweiter Reformprozesse zu nutzen; endogene Entwicklungspotenziale und Erfahrungswelten im Osten radikal freizusetzen; Rücksicht auf die begrenzten Ressourcen des Westens zu nehmen, indem man keine Rücksicht mehr auf dessen ideologische Befindlichkeiten, Rituale etc. nimmt:

Die eigentliche Stunde des Pilotprojekts Ost kommt erst 2004 - und das wird vor und mit den Wahlen 2002ff. vorbereitet!

Von dieser Warte aus und mit diesem Bezugspunkt ist die PDS nicht nur gut beraten, sondern geradezu gezwungen, das Thema Reform des Föderalismus und auch der Verhältnisse von Bund und Ländern zu den Kommunen umfassend und aktiv aufzugreifen und bis auf die für ihre Reformvorhaben notwendige Ebene einer Verfassungsreform zu heben.

Für das von der PDS zu vertretende Reformprojekt reicht dies allein freilich nicht aus. Die Aufgabe der PDS in der Teilgesellschaft West ist damit nicht hinreichend zu beschreiben. Ebensowenig reicht es, die PDS als Partei „links von der SPD“ zu beschreiben. Auch unsere üblichen Beschwörungen vom „kulturellen Ankommen“ im Westen, die Worte vom langen Weg des „Westaufbaus“ und die damit immer wieder verbundene Hoffnung, dieser lange Weg werde aber spätestens bei der nächsten Wahl im Westen enden, tragen nicht mehr. Wir brauchen mehr als einen Sog von oben und einen Impuls aus dem Osten.

Wir müssen Antworten auf die Frage finden, warum uns mehr als ein bis zwei Prozent der Wählerinnen und Wähler im Westen wählen sollen. Und das müssen Antworten auf die Sorgen und Bedrängnisse der Menschen im Westen an ihrem jeweiligen Lebensort sein.

Wo wir dies auf kommunaler Ebene geschafft haben, findet die PDS auch überdurchschnittlichen Zuspruch. Das haben wir in Berlin, Nordrhein-Westfalen und anderswo gelernt. Doch auf den Ebenen zwischen Kommune und Bund sind wir diese Antworten offenbar noch schuldig geblieben.

Im Osten ist es uns gelungen, nicht nur in den Kommunen bürgernahe, nicht vordergründig ideologisch ambitionierte sozialistische Politik zu betreiben, sondern auch in den Ländern und somit den Regionen des Ostens und dem Osten insgesamt Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen zu geben. Diese Politik zielte und zielt auch auf eine Stärkung der Regionen gegenüber übergeordneten staatlichen und anderen Ebenen.

In ihr steckt auch eine sehr grundsätzliche Antwort auf die Frage nach neuen Regulierungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten - eine Frage, die nicht nur den Osten bewegt, sondern vor dem nicht minder der Westen steht und die von keiner anderen Partei auf dieser Ebene wirklich konzeptionell behandelt wird. Denn es dominiert unterschiedlich akzentuiert ein politischer Nachtrag gegenüber der Globalisierungslogik.

Kompetenzabgabe in die Globalität aber reißt Löcher auf, die die nationale Ebene in der Perspektive nicht mehr stopfen kann. Ralf Dahrendorf weist zu Recht auf „eine massive Gegentendenz” zur Globalisierung hin und meint:

„Wenn nicht alles täuscht, ist diese mehr als ein letztes Zucken der Kräfte der Vergangenheit. Diese Gegentendenz besteht in der entschiedenen Wendung hin zu kleineren Räumen als den Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts.“

Dahrendorf hält es für wahrscheinlich, „dass beide Tendenzen, Globalisierung und Integrismus, zugleich stärker werden. Beide können zudem außer Rand und Band geraten.“

Was bedeutet das für die PDS? Ist sie mit ihrem Ursprung - Ostpartei - vielleicht ungeahnt moderner, wichtiger, als sie selbst denkt? Als andere denken? Sollte die These stimmen, dann muss und kann sie auch neue Dimension der Verantwortung für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie übernehmen, für deren Entwicklung!

Vielleicht liegt eine Antwort auf unseren vermeintlichen Streit über Ostpartei oder bundesweite sozialistische Partei in der Formel: „Partei der Regionen” - erst Ost, nun auch für West-Regionen? Wohl gemerkt „der Regionen“ und nicht „Regional-Partei“.

„Partei der Regionen, in Ost wie West“ - das könnte ein tatsächlich sozialistischer, weil eben auch emanzipativer Ansatz sein. Und ein besonderer Beitrag der PDS im internationalen Maßstab, wo die Regionalisierung als Gegentendenz zur Globalisierung oftmals von eher rechten Parteien als ihr Thema aufgenommen wurde. Die PDS kann beweisen, dass dies keine unausweichliche Naturnotwendigkeit ist.

Das geht aber nur mit neuem demokratischem Schneid.

Die Politik, die Parteien und mit ihnen mehr und mehr auch der Alltag der bundesdeutschen Demokratie stehen in einem schlechten Ruf - nicht erst seit der CDU-Spendenaffäre oder dem Lafontaine-Rücktritt. Man traut der Politik nicht - und man traut ihr nichts bzw. nichts Gutes zu.

Das gesellschaftliche Ansehen der Parteien ist im Keller, wofür diese selbst verantwortlich sind. In der Bundesrepublik wurde ein sehr enges, elitäres Politikverständnis etabliert. Politik wird als „Staatskunst“ interpretiert und auf „Profis“ reduziert. Parteien reagieren - und regieren -, wo dies nicht mehr so recht funktioniert, mehr und mehr mit Marketing: Parteitage werden nach der Stop-Uhr zelebriert, Politiker wie Models gestylt, Konflikte nach Umfragen dosiert und gemanagt. Der politische Gebrauchswert wird durch derartige Shows nicht größer.

Zum zweiten stellen Politiker die Politik und damit sich selbst partiell in Frage. Etwa wenn Minister meinen, Wirtschaft finde ausschließlich in der Wirtschaft statt und gehe die Politik nichts an.

Zum dritten, und das ist die Gretchenfrage künftiger Demokratien: Hat sich die Politik den als Sachzwang daher kommenden Verwertungsinteressen des großen Kapitals unterzuordnen oder geht es um das Primat einer einbeziehenden Politik, die nach sozialer Gerechtigkeit strebt? Es zeigt sich ein gefährliches Paradoxon: Je globalisierter sich Entscheidungen auswirken, desto kleinkarierter und zugleich ferngesteuerter wird die Politik. 80 Prozent aller hierzulande geltenden Entscheidungen sind zum Beispiel EU-vorgeprägt. Doch wer prägt die EU? Eine europäische Verfassung aber, gar eine einbeziehende und transparente politische Willensbildung gibt es nicht.

Das Grundgesetz billigt Parteien zu, an der politischen Willensbildung teilzuhaben. Real neigen Parteien dazu, ein politisches Monopol zu beanspruchen. Grundgesetzauftrag und Verfassungsrealität klaffen auseinander. Wenn dem aber so ist, dann muss auch gefragt werden: Was ist unzeitgemäß, das Grundgesetz oder die Parteienpraxis? Ich meine: beides.

Thema Verfassung: Die Wende-Zeit in der DDR 1989/90 hatte demokratische Formen entfaltet und hervorgebracht, die allemal bedenkens-, wenn nicht gar bewahrenswert waren. Auch die alte BRD stand längst vor neuen Fragen, erst recht die zu vereinigende. Aber: Der „Motor der Einheit“, wie das Kuratorium die Verfassungsgebung nannte, wurde abgewürgt. Und doch wurde das Grundgesetz seither mehrfach verändert oder neu interpretiert. Das Asylrecht wurde quasi getilgt, Kriege mit deutscher Beteiligung wurden ermöglicht, Bürgerrechte wurden beschnitten, beispielsweise beim sogenannten großen Lauschangriff, und Grundsätze ausgesetzt, zumindest solange in den neuen Bundesländern 86,5 Prozent-Recht im Vergleich zu den „ alten“ gilt. Eine gründliche Verfassungsreform steht an. Die PDS sollte dafür die Initiative ergreifen.

Thema Parteien: Es kann für die PDS kein Bewenden damit haben, die Skandale von CDU und SPD lediglich als Phänomene individuellen Fehlverhaltens zu skandalieren und darauf allein mit Vorschlägen zu antworten, die auf die Stellung des politischen Individuums zielen (Amtszeitbegrenzungen, Strafbarkeit von Verstößen gegen das Parteiengesetz).

Vielmehr müssen für uns strukturelle Fragen im Verhältnis von politischer Partei und Gesellschaft sowie darüber hinaus gehende Aspekte im Vordergrund stehen:

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Finanzierung von Parteien nicht durch vermachtete Interessengruppen (Großunternehmen etc.) und schon gar nicht per Umweg über Landesbanken und Landesgesellschaften etc. verdeckt zu Lasten der öffentlichen Hand

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Stärkung der Basis der Parteien und ihrer Wechselwirkung mit der Gesellschaft durch stärkere Begünstigung von Mitgliedsbeiträgen statt Spenden sowie durch Maßnahmen zur Erleichterung des Wechsels zwischen bzw. der Vereinbarkeit von Berufs- und Partei-/Mandatsträgerleben

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Einbindung der Parteienherrschaft in praktische Schritte zur Demokratisierung der Demokratie von Volksentscheiden bis zur Stärkung kommunaler Selbstverwaltung. Eine besondere Rolle muss dabei - auch und gerade in Auseinandersetzung mit dem Aufschwung des Rechtspopulismus in Österreich und seinen Auswirkungen auf Deutschland - das Thema „Parteienfilz“ spielen (mit den Worten Richard von Weizsäckers: &132;Machtversessenheit“ und „Machtvergessenheit“ der Parteien): also die faktische Dominanz der beiden großen Parteien über zentrale Institutionen des Rechtsstaates, der öffentlichen Meinungsbildung etc.

Es geht also nicht nur um Transparenz im Spendengeschäft, es geht um die Verfasstheit des Gemeinwesens, und zwar im europäischen, ja globalen Kontext.

Das ist kein Plädoyer gegen Parteien, wohl aber gegen den Parteienstaat. Das Parteien- und Demokratie-Problem lässt sich nicht auf Vertrauensfragen oder gar Marketingbeschränken. Und eben so wenig darf Demokratie auf die Wahl von Parteien reduziert werden.

Die PDS stellte und stellt zahlreiche Vorschläge dagegen, die sich alle unter der Überschrift „Demokratisierung der Demokratie“ bündeln lassen. Sie zielen nicht, wie von Gegnern unterschiedlicher Seiten behauptet wird, auf die Überwindung des Parlamentarismus oder auf seine Verherrlichung, sondern auf seine Entkrustung, auf mehr plebiszitäre Demokratie, auf mehr Mitbestimmung und Kontrolle durch Bürgerinnen und Bürger in allen Sphären des gesellschaftlichen Lebens. Es geht um die Rückgewinnung des Politischen.

Es ist eben ein großer Unterschied, ob man einem gouvernementalen Politikbegriff folgt oder einem emanzipatorischen, ob der Staat mit seinen Institutionen Oberhand gewinnt oder ob Werte wie Teilhabe, Gleichheit oder Demokratisierung obenan stehen.

(redaktioneller Stand: 21. Mai 2000 / Fortschreibungen sind unbedingt erwünscht!)

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22.5.2000
www.petrapau.de

 

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