Politik & Kirchentag

Herthas Auferstehung

Von Holger Kulick

Gesellschaftliche Einmischung ist ein zentrales Anliegen von Kirchentagen. Besonders herausgefordert werden sollen dabei Politiker - die Kirchentage wiederum gerne für Selbstdarstellungszwecke nutzen. Und wenn es sich anbietet, sogar für ein Comeback.

Berlin - Die Miterfinderin dieses ersten ökumenischen Kirchentags, die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann, hat beklagt, dass das Berliner Christentreffen zu wenig politische Akzente setzt und sich zu sehr auf binnenkirchliche Fragen beschränkt. Doch wer das 700 Seiten dicke Programmbuch studiert, den plagen arge Entscheidungsnöte. Die zeitgleiche Konkurrenz prominent besetzter Gesellschaftsdebatten ist groß.

Mit Andachten und Bibelversinterpretationen von Politikern fängt jeder Tag an. Nicht nur in den zahlreichen Kirchen Berlins, sondern auch in den kathedralengroßen Sälen der Messe Berlins, die teilweise bis zu 2000 Pilger fassen. Als Niedersachsens Landeschef Christian Wulff über die Uneinigkeit der Christen predigt, („Nur wenn wir uns einig sind, glaubt man uns, dass wir etwas zu sagen haben“), sind etwa 500 Besucher im Saal.

Ein paar Messehallen weiter drängeln sich doppelt so viele, obwohl die Morgenpredigerin kein Amt mehr inne hat. Denn hier spricht Ex-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) zu rund 1000 Gläubigen, die neugierig sind auf die Frau, die im letzten Wahlkampf mit Schimpf und Schande ihr Amt verlor, weil sie US-Präsident Bush vermeintlich in Hitlers Nähe rückte. Konzentriert referiert sie einen wohl formulierten Text und warnt, dass sich keine Religion über die andere stellen darf. Starken Applaus erhält die engagierte Christin, als sie Amerikas „blasphemische Inanspruchnahme des christlichen Glaubens“ für den Irak-Krieg geißelt und den Missbrauch christlicher Werte durch die US-Regierung beklagt. Ein bisschen wirkt das wie ein Rechtfertigungsversuch von jemand, der im politischen Leben zur Un-Person erklärt wurde.

Anschließend musste die ehemalige Justizministerin sogar Autogramme geben - das überraschte sie nun selber. Der 65-jährige Werner Wieprecht aus Hamburg war extra zu dieser Frühandacht gekommen ist, „weil diese Frau Solidarität braucht“. Ihre umstrittene Bush-Kritik habe schließlich „den Nagel auf den Kopf getroffen“. Für Däubler-Gmelin dürfte dieser Auftritt Genugtuung sein - lange hielt sie sich in der Öffentlichkeit zurück, auf dem Kirchentag, meldet sie sich gleich mit mehreren Terminen zurück.

Populär oder populistisch - Oskar Lafontaine?

Auf zahllose Fans kann auch Oskar Lafontaine zählen - zumindest zu Beginn seines Auftritts auf dem Kirchentag. Ihm steht eine der größten Messehallen zur Verfügung. Sie ist überfüllt, als das Enfant Terrible der SPD die Bühne betritt, um sich zunächst von Moderator Robert Leicht über Populismus in der Politik befragen zu lassen und dann zu seiner Ausladung vom bevorstehenden SPD-Parteitag. „Ich wollte da 20 bis 30 Minuten einen Gegenentwurf zu Gerhard Schröders Agenda 2010 unterbreiten, das ist offensichtlich nicht gewünscht“, beschwert sich der offensichtlich tief gekränkte und bekommt einen roten Kopf, als ihn der Moderator unter anhaltendem Beifall fragt: „Wie kann eigentlich ein Populist wie Sie alles hinschmeißen und sein Parteivolk im Stich lassen?“.

Er freue sich auf diese Frage, fängt der Ex-SPD-Vorsitzende die spürbare Häme im Saal ab und beschwert sich, dass ein politisch selbstgewählter Rücktritt „als Flucht denunziert wird“. Drei Gründe für seinen abrupten Abgang aus der Politik im Jahre 1999 führt der Saarländer auf. Zum einen hätten Schröder und Fischer ihn damals als konsequenten Gegner des Kosovo-Einsatzes der Bundeswehr missachtet, außerdem habe Schröder in der Steuerdebatte hinter seinem Rücken mit der Industrie gedealt und drittens, trotz gegenteiliger Versprechen Omas Rente kürzen wollen.

Wo aber „Wortbruch zur Regel wird“, könne er keine Zusammenarbeit sehen, sagt Lafontaine und verschwindet mit stolzgeschwellter Gockel-Brust von der Bühne.

Kanzler-Heimspiel ohne Sozialagenda

Drei Stunden später betritt der wahre Amtsinhaber die gleiche Bühne, allerdings mit etwas weniger Publikum, als Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine. Dafür nimmt er sich 90 Minuten Zeit, 70 mehr als Lafontaine. Kirchentagsleitung und Kanzleramt haben Gerhard Schröder kurzfristig dieses Forum eingerichtet, bei dem er keine tagesaktuelle Debatte zu fürchten braucht. Eine Handvoll ausgewählter junger Leute aus mehreren Ländern darf Schröder zu einem Thema befragen, das derzeit weniger umstritten ist, als die Agenda 2010. So wildert Schröder stattdessen auf Joschka Fischers Terrain - Europa.

Locker und ohne Jackett kostet er die Gelegenheit aus, unter dem überwiegend jungen Publikum zu punkten. Europa möchte er zu einem Modell für eine „zivile Macht“ entwickeln, erklärt er. Diese föderative Bündnis mit starken Nationalstaaten soll besonders der Dritten Welt zur Seite stehen, Fremdenfeindlichkeit besiegen und Konflikte „so weit es eben geht mit friedlichen Mittel lösen“. In Konkurrenzsituation zu einer Weltmacht soll dieses Wunscheuropa selbstverständlich nicht stehen, sagt Schröder, aber betont zugleich, dass zum Ziel eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gehört, in der Europa mit einer Stimmer eben lauter spreche, als mit vielen.

Kostenrechnungen lässt der Kanzler außen vor. Er spricht von dem „Versprechen“, dass Bildung und Wissenschaft in diesem Europa besonders groß geschrieben werden sollen, dass das Erststudium weiterhin kostenfrei bleibt und die gegenseitige Anerkennung von europaweit erworbenen Studienabschlüssen selbstverständlich werden muss. Anhaltender Applaus der vielleicht 1500 jungen Leute ist ihm sicher.

Nur kurzzeitig machen ihm Rückfragen zu schaffen. Europa sei doch gar nicht so einig, beschwert sich ein Gesprächspartner aus Polen - das hätten doch die unterschiedlichen Positionen im Irak-Krieg gezeigt. Sicherlich handele es eher um „guten Wunsch, vielleicht einen zu guten“, räumt Schröder ein und beruhigt sein misstrauisch gewordenen Auditorium, dass er nicht von Seifenblasen reden will: „Aber Deutschland wird das Land sein, was am meisten für die europäische Integration tun wird, das ist ein Versprechen“ - und wieder ist ihm Zuspruch gewiss.

Die einen fühlen sich beim Hinausgehen bestärkt, den Traum vom neuen Europa zu träumen, so wie der 24-jährige Björn aus dem hessischen Lampertheim („Jetzt liegt es an uns, das voran zu treiben“), andere bleiben skeptisch. „Eigentlich war das doch nix Neues“, resümiert die 16-jährige Katrin aus Mannheim, sie hätte lieber ein paar aktuelle innenpolitische Fragen gestellt. Aber dass das nicht möglich gewesen sei, „war ja sicher von den Organisatoren so gedacht“.

Thierse versucht es mit Theorie

Solche Enttäuschungen bleiben nirgendwo aus. Richard von Weizsäcker zeigt sich als zentraler Redner in einer Debatte über Terrorismusfolgen und -Bekämpfung enttäuschend unverbindlich und „aalglatt“, wie Beobachter kommentieren, zu deutlich hält er sich aus einer Bewertung des Irak-Kriegs heraus. Dagegen sorgt die Ostberliner PDS-Abgeordnete Petra Pau bei einer Kirchen-Diskussion über Atheismus in einer Gemeinde in Berlin Mitte für eine Überraschung. Sie outet sich als evangelisch konfirmiert und fühlt sich trotz Kirchenaustritt mit 17 auch heute noch in Problemfällen zur Kirche hingezogen. Der PDS-Frau hat das niemand zugetraut, weil die Sozialisten stets atheistisch waren. Dieses Klischeedenken müsse aufhören, plädiert Pau.

„Wegen seiner Rede hat sich der ganze Kirchentag gelohnt“, loben Zuhörer den Bundestagspräsidenten. Der zog seine theoriebegeisterten Fans mit einem 15seitigen Weltverbesserungstext zum Thema Demokratiereform in den Bann - von dezidierter Kritik an „missionarischen Kriegen“ bis hin zu konkreten Überlegungen, wie die Globalisierung sozialer gestaltet werden kann oder parlamentarische Demokratie durch die Verlängerung von Legislaturperioden versachlicht werden könnte. In seinem Fall wird die riesige Halle wegen Überfüllung geschlossen.

SPIEGEL ONLINE - 30. Mai 2003
 

 

 

30.5.2003
www.petra-pau.de

 

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