Die Verhältnisse sind nicht so

Rede von Petra Pau auf der Gedenkveranstaltung anlässlich des 70. Jahrestages der „Liquidation des 'Zigeunerfamilienlagers'“
Berlin, 2. August 2014

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Vor 70 Jahren, am 2. August 1944, wurde das so genannte Zigeunerfamilienlager im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau „liquidiert“. Daran erinnern wir heute.

Wobei das Liquidieren, also das Beseitigen, formal das Nazi-Lager meint, real aber einen Völkermord an Sinti und Roma, an Menschen, die als rassistisch „undeutsch“ verfolgt und ermordet wurden.

Allein in diesem Lager wurden 19.300 „Zigeuner“ umgebracht. Darunter 371 Säuglinge, die im KZ geboren worden waren. Über diese 371 denke ich seit Wochen nach. Vergeblich.

Verfemte, verfolgte, zu Unrecht verurteilte Menschen blieben unter widrigsten Bedingungen menschlich. Sie liebten und brachten Menschlein zur Welt, die dann - wie sie selbst - umgebracht wurden.

In meinem Berliner Heimatbezirk Marzahn-Hellersdorf weist eine Gedenkstätte auf das Schicksal tausender Sinti und Roma hin. In Marzahn gab es den „Rastplatz“. So nannten ihn die Nazis.

Dort wurden Sinti und Roma konzentriert, zur Zwangsarbeit getrieben und später in Vernichtungslager deportiert. Grundlage war ein Erlass zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“.

Das Lager befand sich nahe stinkender Rieselfelder, am Rande eines Friedhofes. 1936 stieg die Zahl der Insassen rapide. Berlin sollte zu den Olympischen Spielen „zigeuner-frei“ sein.

Seit Mitte der 1980er Jahre, also erst 50 Jahre später, erinnert ein Gedenkstein an diese Nazi-Gräuel. Engagierte Bürgerrechtler und Kirchenleute hatten die DDR-Spitze dazu bewegt.

Vor einigen Jahren wurde ein Platz in unmittelbarer Nähe nach Otto Rosenberg benannt, einen damals dort Inhaftierten. Gedenktafeln und jährliche Ehrungen versuchen die Erinnerung wach zu halten.

Otto Rosenberg war in der Bundesrepublik Deutschland politisch engagiert. Seine „Zigeuner“-Geschichte aber wurde für viele erst in den 1990er Jahren publik.

In seinem biografischen Buch „Das Brennglas“ beschreibt er seine Erlebnisse rund um den „Marzahner Rastplatz“. Dazu gehörten auch Rassenforschungen deutscher Ärzte im Dienste der Nazis.

Es scheint typisch, dass in der NS-Zeit verfolgte, aber überlebende Sinti und Roma ihr Schicksal lange für sich behielten. Das spricht nicht gegen sie, sondern gegen die Nachkriegs-Gesellschaften.

So auch Romni Ceija Stojka in Österreich. Auch sie begann erst im fortgeschrittenen Alter ihre KZ-Erlebnisse nachzuzeichnen. Ich empfehle die Ausstellung „Sogar der Tod hat Angst vor Auschwitz“.

Das sehr späte Erinnern an den Völkermord an Sinti und Roma führt mich zu der Frage, ob wir heute sensibler und wacher sind. Meine Antwort ist ambivalent und hat etwas mit dieser Gedenkstätte zu tun.

Ich war bei der Einweihung am 24.10.2012 dabei. Viele waren dabei, auch fast alle, die die Bundesrepublik Deutschland repräsentieren. Die späte Würdigung hat sich mir aus einem anderen Grund eingeprägt.

Am selben Tag begannen Politiker vor einer Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme zu warnen. Man musste sich schon beide Ohren zuhalten, um nicht zu hören: Es geht gegen Sinti und Roma.

Der einstige CDU-Generalsekretär, Heiner Geißler, schrieb kürzlich dazu:
„Die Roma aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina sollen bei uns in Zukunft kein Asyl mehr finden können.“

Und weiter Heiner Geißler: „Leider ist die Bundesregierung drauf und dran“ zu vergessen, dass „deren Vorfahren als Zigeuner von den Nazis in Auschwitz vergast worden waren.“

Ich füge erstens hinzu: Es ist nicht allein die Regierung. Das entsprechende Gesetz, das für Sinti und Roma unsichere Staaten per Federstrich als sicher verklären soll, muss durch den Bundestag.

Ich füge zweitens hinzu: Die Diskriminierung von Sinti und Roma feiert auch in EU-Staaten schlimme Urstand, weitgehend unbeanstandet. Ich verweise auf Ungarn, aber auch auf westliche Staaten.

Und ich füge drittens hinzu: Wenn wir über die Achtung oder Missachtung von Sinti und Roma reden, dann sprechen wir nicht über Minderheitenrechte, sondern über Menschenrechte.

Abschließend: Gern hätte ich Ihnen eine wohlfeile Rede geboten. Aber die Verhältnisse sind nicht so, hatte Bertolt Brecht einst gemahnt. Das aktuelle gesellschaftliche Klima gegen vermeintlich Andere ist schlecht.

Umso mehr bin ich für Erinnerung. Nicht nur der Erinnerung wegen, sondern als Nachdenken über die Gegenwart und Zukunft. Diese Verantwortung nimmt uns niemand ab. Dieses Gedenken lädt dazu ein.
 

 

 

2.8.2014
www.petra-pau.de

 

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