„Solche bitteren Erfahrungen kann auch ein Gericht nicht heilen“

Interview auf mitmischen.de
1. August 2014

 
01.08.2014 | Seit über einem Jahr läuft in München der Prozess gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe. Ihr wird vorgeworfen, als Teil der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" an der Ermordung von zehn Menschen beteiligt gewesen zu sein. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau verfolgt die Geschehnisse im Gerichtssaal – und ist noch nicht sicher, ob der Rechtsstaaat sich hier bewährt.

Frau Pau, der Prozess gegen Beate Zschäpe machte gerade wieder Schlagzeilen, als die Angeklagte mitteilte, sie vertraue ihren Anwälten nicht mehr. Vielen Beobachtern ist erst durch die Berichterstattung klar geworden, dass die drei Anwälte, die Zschäpe verteidigen, Pflichtverteidiger sind – also vom Staat bezahlt werden. Ist das gerecht?

Jede und jeder Angeklagte hat einen rechtsstaatlichen Anspruch auf Verteidigung, also auch Frau Zschäpe.

Der Prozess läuft jetzt seit einem Jahr. Verfolgen Sie das, was da im Gerichtssaal geschieht?

Ich informiere mich über die Medien und spreche gelegentlich mit Journalisten und Anwälten, die beim Prozess dabei sind.

Wie schätzen Sie bislang den Erkenntnisgewinn ein?

Das kann ich schwer beurteilen, wobei zu beachten ist, dass die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und das Gericht zwei unterschiedliche Aufgaben hatten und haben. Das Gericht muss die persönliche und konkrete Schuld der Angeklagten nachweisen. In den Untersuchungsausschüssen ging es vor allem um das Versagen der Politik und von Behörden. Übrigens: Fast alle Bundesländer haben einen Bezug zum NSU-Desaster. Also sollten noch weitere Parlamente aufklären, wie demnächst auch Hessen oder Nordrhein-Westfalen.

Zum Auftakt des Verfahrens hieß es häufig, nun müsse sich der Rechtsstaat beweisen. Was heißt das? Und: Hat er das?

Der Rechtsstaat hat zwei grundsätzliche Aufgaben. Er hat erstens alle Bürgerinnen und Bürger vor Straftätern zu schützen, allemal, wie im Fall der NSU-Nazi-Bande, vor Mord. Tut er oder kann er das nicht, dann hat er wenigstens die Täter zu ermitteln und vor Gericht zu stellen. Beim Schutz seiner Bürger und bei der Ermittlung der NSU-Täter hat der Rechtsstaat jahrelang komplett versagt. Das kann auch das Gericht nicht wettmachen. Ob sein Urteil korrekt sein wird, kann man erst danach bewerten.

Glauben Sie, dass ein fairer und sauber geführter Prozess den Angehörigen der Opfer bei der Verarbeitung ihres Traumas helfen kann?

Ich weiß, dass viele Angehörige unzufrieden sind, weil die politischen Hintergründe und das Behördenversagen bei der Mord- und Anschlagserie vor Gericht kaum eine Rolle spielen. Man muss sich nur einmal Folgendes vorstellen: 2004 gab es in der Kölner Keupstraße einen Nagelbombenanschlag mit zwei Dutzend zum Teil schwer Verletzten. Opfer dieses Mordversuches wurden noch im Herbst 2011 von der Polizei vorgeladen und der Tat verdächtigt. Einer von ihnen sagte mir: „Frau Pau, ich weiß, auch die Polizei kann irren. Aber sie vergaß, dass wir Menschen sind!“ Solche bitteren Erfahrungen kann auch ein Gericht nicht heilen. Es kann bestenfalls Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen.

Sie haben als Obfrau der Linken auch den NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages erlebt. Welche wichtigen Erkenntnisse hat er zu Tage gebracht?

Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses umfasst 1.500 Seiten mit 50 konkreten Schlussfolgerungen, die von der CDU/CSU bis zur Linksfraktion getragen werden. Man findet sie im Web-Angebot des Bundestages, deshalb hier nur drei Anmerkungen. Erstens: Bis zum Auffliegen der NSU-Bande wurde die Gefahr von Rechtsterrorismus von allen Sicherheitsbehörden stets vehement ausgeschlossen. Das war eine tödliche Fehleinschätzung. Zweitens: Das tiefer liegende Problem heißt Rassismus, übrigens nicht nur am extrem rechten Rand. Das muss endlich ernst genommen werden. Und Drittens: Gesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus und Rassismus, für Demokratie und Toleranz müssen politisch und finanziell verlässlich gefördert werden. Daran mangelt es noch immer.

Ihre Fraktion hat nach der Beweisaufnahme festgestellt, man habe ein V-Leute-System erkannt, das versagt habe. Sind inzwischen Konsequenzen gezogen worden?

V-Leute sind keine netten Informanten von nebenan. Im konkreten Fall waren es Hardcore-Nazis, die von Sicherheitsbehörden als Spitzel bezahlt und als Täter geschützt werden. Ich bin überzeugt: Das V-Leute-System hat nicht versagt, es ist grundfalsch und kreuzgefährlich, weil es letztlich die Nazi-Szene stärkt und rechtsstaatliche Ermittlungen verhindert. Aber in dieser Einschätzung wird DIE LINKE bestenfalls noch von Bündnis 90/Die Grünen unterstützt. Und nun zu der Frage nach dem Aufklärungswillen der Beteiligten: Er ist höchst unterentwickelt. Ich empfehle zu beiden Fragen als spannende Lektüre das Buch „Heimatschutz – der Staat und die Mordserie des NSU“.

Über Petra Pau:
 
Petra Pau, geboren 1963 in Berlin, ist Abgeordnete der Linken und seit 2006 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Für ihre Fraktion saß sie als Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss.
 
(suk)
 

 

 

1.8.2014
www.petra-pau.de

 

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