Das NSU-Desaster und das Versagen der Geheimdienste

Podiumsdiskussion der Fraktion DIE LINKE im Bundestag „Verfassungsschutz - zwischen Reform und Auflösen“
Berlin, 13. März 2013
Beitrag von Petra Pau

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1. 

Vom „Versagen aller Sicherheitsbehörden“ sprach BKA-Chef Jörg Ziercke nach dem 4. November 2011. „Wir hätten es besser wissen können“, meinte zur selben Zeit der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm. Bundeskanzlerin Angela Merkel entschuldigte sich später bei den Hinterbliebenen und versprach wiederholt rückhaltlose Aufklärung. Der Schock saß offenbar tief.
 
Ein Nazi-Trio namens „Nationalsozialistischer Untergrund“, kurz NSU, war über ein Jahrzehnt durch die Bundesrepublik Deutschland gezogen, raubend und mordend, unerkannt und unbehelligt. Das ist die offizielle Version. Man muss allerdings viele Fragezeichen wegwischen, um ihr arglos zu folgen. Das größte lautet: Waren sie 13 Jahre lang wirklich unerkannt geblieben? Die Brisanz ist klar. Denn waren sie doch im Blick gewesen, welcher Sicherheitsbehörde auch immer, dann stellt sich die Frage „warum blieben sie unbehelligt“ ganz anders.

2. 

Seit einem Jahr arbeitet der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zur „Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund“.
Nach der Systematik, die wir uns selbst gaben, haben wir uns zuerst den Tatorten gewidmet. Neun Menschen mit Migrations-Hintergrund wurden regelrecht hingerichtet. Eine Polizistin wurde erschossen. Hinzu kamen Nagelbombenanschläge mit zum Teil lebensgefährlich Verletzten.
 
Zeugen im Ausschuss waren hochrangige Verfassungsschützer und Kriminalbeamte, jeweils vom Bund und aus den Ländern. Wir befragten leitende Staatsanwälte. Politisch verantwortliche Minister waren im Zeugenstand, außerdem Zuständige vom Bundesnachrichtendienst (BND) und vom Militärischen Abschirmdienst (MAD). Sie alle hatten auf unterschiedliche Weise mit dem NSU-Desaster zu tun. Trotzdem kann ich bislang bei keinem einzigen Tatort sagen: Ja, genau so könnte es gewesen sein. Von vorn bis hinten gibt es Unklarheiten, Widersprüche, Geheimnisse, auch Lügen. Ich will das am Anfang und am Ende der NSU-Geschichte illustrieren.
 
Das spätere NSU-Trio, Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, war den Sicherheitsbehörden längst bekannt, als militante Nazis, nicht nur in Jena.
Am 28. Januar 1998 wurde eine Razzia in drei Garagen durchgeführt, die von ihnen genutzt wurden. Man wurde fündig: Sprengstoff, Bomben, Nazi-Utensilien. Die Razzia gilt zugleich als Anlass für Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, gemeinsam in den Untergrund abzutauchen. Warum, ist noch unklar. Ebenso unklar ist, welche Rolle der Verfassungsschutz im Vorfeld der Razzia gespielt hatte. Hatten sie die drei bereits im Visier?
 
Die Durchsuchung verlief, nach allem was wir bisher wissen, dilettantisch. Noch schlimmer: Die anschließende Aufklärung und die Suche nach den zur Fahndung ausgeschriebenen Nazis war offenbar kein Deut besser. Eine Telefon- und Namensliste aus der Garage enthielt das who is who der bundesdeutschen Nazi-Szene. Sie hatte 36 Einträge, neun davon wiesen nach Chemnitz, wo das NSU-Trio seinen ersten Unterschlupf fand.
 
Die Liste blieb 14 Tage lang unbeachtet. Dann nahm sie sich ein BKA-Beamter vor. Er befand, sie sei nicht wesentlich und übergab sie mit einem entsprechenden Vermerk dem zuständigen LKA-Beamten aus Thüringen. Der will sie nie gesehen haben, jedenfalls könne er sich nicht daran erinnern. So endete die Kontroverse nach einer Gegenüberstellung im Untersuchungsausschuss.
 
Nehmen wir mal an, hier haben zwei Kriminalbeamte gefehlt und den jeweiligen Fehler des anderen potenziert. Aber zugleich erfuhren wir, dass Verfassungsschützer beim leitenden Staatsanwalt ein- und ausgingen und die jeweils aktuellen Ermittlungsakten studierten. Sie waren also klüger, als die Polizei erlaubt. Sie kannten die Ermittlungsschritte im Voraus. Leitenden Ermittlungsbeamten wurde zudem bedeutet - nach deren Aussagen - sie würden die drei nie finden. Sie fanden sie nie.
 
Ich springe zum Ende des NSU-Desaster. Am 4. November 2011 überfielen Böhnhardt und Mundlos erneut eine Bank, diesmal in Eisenach. Es wurde Fahndung ausgelöst. Eine Zeugenaussage half, deren Wohnwagen einzukreisen. Nach offizieller Vision erschossen sich die beiden Nazis. Noch hatten die Polizisten der Direktion Gotha keine Ahnung, wen sie da vor sich hatten. Das war am Vormittag.
 
Zur selben Zeit war Beate Zschäpe in der Zwickauer Wohnung des NSU-Trios. Sie surfte im Internet. Plötzlich, am Nachmittag, rief sie die Eltern von Mundlos an. Uwe kommt nicht mehr, die beiden Uwes sind tot, teilte sie mit. Offenbar verabredungsgemäß setzte sie anschließend das Zwickauer Haus in Brand, um Spuren zu verwischen. Sie setzte sich ab, verteilte die berüchtigte „Paulchen-Panter“-CD und reiste quer durch Deutschland. Die eigentliche Preisfrage aber bleibt: Wie und von wem erfuhr Zschäpe in Zwickau, dass ihre Kumpane Böhnhardt und Mundlos in Eisenach tot waren?

3. 

Derartige Geschichten könnte ich im Dutzend erzählen. Dass sie noch immer unklar sind und unklar gehalten werden, spricht nicht für bedingungslose Aufklärung. Viele dieser Ungereimtheiten geben Verschwörungstheorien Nahrung. Und jede im Nachhinein vernichtete Akte auch. Und fast überall wurden Akten entsorgt: in Kriminalämtern, beim Verfassungsschutz, selbst im Bundesinnenministerium.
 
Die Begründungen folgen stets drei Grundmustern. Entweder gab es ein bedauerliches Versehen. So beim LKA Berlin, wo im Keller zwei Aktenkisten verwechselt wurden und man die rechte statt die linke geschreddert habe. Oder, so wird behauptet, die Akten hätten keinen Bezug zur NSU-Bande, was angesichts des Nazi-Netzwerkes eine forsche Behauptung ist. Oder der Datenschutz wird in Haft genommen. Die beklagten Akten hätten eigentlich schon lange vernichtet sein müssen.
 
Ich merke mal vorsichtig an: Wenn ausgerechnet Sicherheitsbehörden, noch dazu geheime, sich auf Datenschutz berufen, werde ich hellhörig. Ich kann es auch praktisch erklären. Im Juni 2012 wurde bekannt, dass beim Bundesamt für Verfassungsschutz Akten vernichtet wurden, weil ihre Laufzeit abgelaufen sei. Die allgemeine Empörung war groß. Tage später hieß es, man habe die Akten rekonstruiert, wir könnten sie in der Treptower Außenstelle des Verfassungsschutzes einsehen.
 
Das hatte bei mir zwei Fragen ausgelöst. Erstens: Wie können Daten rekonstruiert werden, die doch angeblich aus datenschutz-rechtlichen Gründen vernichtet wurden? Es muss sie also trotzdem noch gegeben haben, also nichts mit Datenschutz. Zweitens: Warum durften wir sie nur in der Geheimzentrale Treptow einsehen? Was immer auch bedeutet: Wir dürfen öffentlich nicht darüber reden, was wir gelesen haben. Mit bedingungsloser Aufklärung hat auch das nichts zu tun.
 
Zu diesem Komplex noch eine letzte Episode, sie ging durch die Medien. Die Landesregierung Thüringen hatte 2012 entschieden, alle Akten zum Thema Rechtsextremismus ungeschwärzt dem Untersuchungsausschuss des Bundestags zu übergeben. Die Art und Weise, wie das geschah, bietet Stoff für einen Thriller. Die Innenminister aller anderen Länder empörten sich. Es wurde sogar erwogen, heißt es, die Bundespolizei in Marsch zu setzen, um die Lkw mit den Akten auf der Autobahn abzufangen.
 
Ich will jetzt gar nicht über das Demokratieverständnis reden und über die Missachtung, mit der Regierende Parlamente brüskieren. Der Aufruhr hatte andere Ursachen. Es kann nämlich durchaus sein, dass Duplikate von Akten, die man vernichtet hoffte, sich in anderen Archiven wieder finden. So war es ja auch bei der MAD-Akte über Mundlos, die es angeblich nie gab und die dann doch in Sachsen-Anhalt plötzlich auftauchte.

4. 

Im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages gibt es inzwischen einen geflügelten Begriff: Das „Treptow Verfahren“. Wir lehnen es ab. Es ist der Versuch, uns Akteneinsicht zu gewähren, die zugleich als geheim eingestuft wird. Ich sagte es schon: Wir dürfen dann nicht darüber sprechen, mit niemanden und niemals. Nicht nur die Bundesebene frönt dieser Hinterlist. Leider auch Länder, zum Beispiel Brandenburg.
 
Im Kern geht es darum, das Parlament, die Aufklärung, die Öffentlichkeit einzukaufen, sie zu verschwiegenen Teilhabern des Geheimen zu machen. Das ist das Gegenteil von Aufklärung und von Demokratie. Ich halte dieses Gebaren des Staates für grundgesetzwidrig. Derartige Versuche gab es schon bei früheren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Es gibt einschlägige Urteile des Bundesverfassungsgerichts dagegen.

5. 

Abschließend will ich den Schäfer-Bericht einführen. Bundesrichter Schäfer wurde von der Thüringer Landesregierung beauftragt, das Versagen der Sicherheitsbehörden zu untersuchen. Sein Urteil war vernichtend. Und erhellend. Im Bundestagsuntersuchungsausschuss schilderte er, was der Verfassungsschutz zum NSU-Trio nachweislich wusste:
 
Die drei sind untergetaucht.
Sie brauchen Geld.
Wahrscheinlich sind sie in Sachsen.
Das Trio verlangt nach Waffen.
Sie haben sich fremde Papiere beschafft.
Es braucht kein Geld mehr.
Sie planen weitere Überfälle.
 
All diese Informationen des Verfassungsschutzes, so Schäfer, wurden nie zu einem Mosaik zusammengefasst. Sie blieben unbearbeitet und vor allem geheim. Die Ermittlungsbehörden wurden dumm gehalten. Der Verfassungsschutz genügte sich selbst und hat im besten Fall die Ermittlungen nach dem NSU-Nazi-Mord-Trio nicht befördert.
 
Das ist die positive Beschreibung. Ich folge ihr nicht. Für mich standen die Ämter für Verfassungsschutz im Zentrum des Versagens. Und mit ihrer V-Leute-Praxis waren sie de facto Nazis zu Diensten. Auch das könnte ich an Stichworten wie Brandt, Corelli oder Piato beschreiben. Es sind üble Geschichten über Staatskumpanei mit militanten Nazis.
 
Das für mich Unverständliche bleibt: Der Schutz der Geheimen rangiert über dem Recht der Ermittler. Wir reden über Straftaten, über Morde. Die Aufklärung wird behindert und verhindert, damit das Geheime geheim bleiben darf. Ich halte das für absurd, für einen Affront gegen die Opfer und Betroffenen, für undemokratisch und für nicht rechtsstaatlich.
 

 

 

13.3.2013
www.petra-pau.de

 

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