Mehr als Gedenken!

Antisemitismus-Konferenz anlässlich des Gedenkens an das Massaker von Babi Jar vor 70 Jahren
Kiew, 19. September 2011
Rede von Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundestages

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Es ist das zweite Mal, dass ich hier in Babi Jar bin. Aus meiner Sicht erinnert die Gedenkstätte in drei Dimensionen: Erstens an die Ermordung von 33.000 Jüdinnen und Juden hier im September 1941. Zweitens an die bis zu 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden, die zwischen 1941 und 1945 in der Ukraine umgebracht wurden. Und drittens an die insgesamt sechs Millionen Opfer des Holocaust. Die Barbarei des Holocaust fand in vielen Ländern Komplizen. Auch das gehört zur Geschichte. Aber der Holocaust war und bleibt das schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte.

Es geht ums Erinnern, nicht nur um Gedenken. Diejenigen, die den Holocaust planten und organisierten, konnten an eine menschenverachtende Ideologie anknüpfen, die viel älter und weit verbreitet ist: den Antisemitismus. 1945 wurde Europa, auch Deutschland, vom Faschismus befreit. Das heißt aber nicht, dass damit auch der Antisemitismus Geschichte wäre. Er geistert in alten und neuen Formen fort. Übrigens egal, ob Jüdinnen und Juden präsent sind oder nicht, Antisemitismus ist gegenwärtig. Der geistige Kampf dagegen bleibt daher eine aktuelle und permanente Herausforderung.

Das Begreifen wird schwieriger. Der Holocaust liegt inzwischen ein langes Menschenleben zurück. „Zeitzeugen“, ein deutsches Wort, werden rar. Und dennoch muss das Geschehene so weiter getragen werden, dass es von Nachgeborenen begriffen werden kann: mit Herz und Verstand. Damit es sich nie wiederhole, nirgendwo. Meine Erfahrung sagt: Man kann die Geschichte des Holocaust aus zwei Richtungen erzählen. Vom Ende her: dem Massenmord, den Gaskammern und Erschießungen. Oder vom Anfang her: dem Ausgrenzen von Jüdinnen und Juden, von Menschen.

Überall dort, wo begonnen wird, Menschen in nützlich oder schädlich, in höherwertig oder minderwertig, in zugehörig oder abartig zu unterscheiden, überall dort ist der eigentliche Ungeist des Holocaust nicht überwunden. Übrigens: Keine der großen Religionen lässt solche Unterscheidungen zu. Die historische Epoche der Aufklärung tut es auch nicht. Und die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ spricht ebenso dagegen. Sie besagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar, aller Menschen. Egal, was sie glauben, wie sie leben, wie sie lieben. Die individuelle Vielfalt ist des Menschen Recht.

Als Mitglied des Deutschen Bundestages habe ich zwei Spezialthemen: Bürgerrechte und Demokratie. Das schließt immer auch den Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ein. Politisch verstehe ich mich als Linke. Und so liegt nahe, dass ich in vielen Fragen beherzt andere Positionen vertrete, als Politiker anderer Parteien. Aber in einer Frage strebe ich immer ein parteiübergreifendes Bündnis an, über alle anderen Unterschiede hinweg.
Eben wenn es darum geht, schon den Anfängen von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus zu wehren.

Das ist meine Lehre aus der Geschichte. Und aus der deutschen Geschichte ist auch zu lernen: Der Faschismus kam nicht an die Macht, weil die Nazis so stark waren. Er wurde übermächtig, weil die Demokratinnen und Demokraten in zentralen Fragen heillos zerstritten waren. Daran ist zu erinnern, wenn wir der Millionen Opfer des Holocaust gedenken. Ich bin Jahrgang 1963 und habe daher keine Mitschuld an der Shoah. Aber ich trage Verantwortung für das, was ist, und für das, was wird. Also auch dafür, dass sich das vormals Unvorstellbare nie wiederhole. Auch deswegen bin ich heute hier.

Als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags füge ich an. Das höchste Deutsche Parlament hat 2008 einmütig einen Beschluss gefasst: Antisemitismus ächten - Jüdisches Leben fördern. Auch hierbei geht es nicht nur ums Gedenken und auch nicht nur ums Erinnern. Es ist eine Selbstverpflichtung, die Politik und die Gesellschaft sind gefordert. Ich erlebe in vielen Ländern, wie präsent antisemitische Klischees sind, gerade angesichts aktueller Krisen. Deshalb wiederhole ich abschließend: Antisemitismus ist keine politische Kritik. Antisemitismus ist eine menschenverachtende Ideologie.
 

 

 

19.9.2011
www.petra-pau.de

 

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