Was zählt, ist der ganz normale Alltag

Eröffnung der Tagung „Sexuelle Vielfalt leben!“ der der Linksfraktionen im Deutschen Bundestag und im Abgeordnetenhaus von Berlin; Berlin, 22. Juni 2009,
Eröffnungsrede von Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundestages

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

wir haben Sie eingeladen. Sie sind gekommen. Also begrüße ich Sie herzlich zur Tagung „Sexuelle Vielfalt leben!“. Dass die Partei DIE LINKE diese Veranstaltung trägt, sollte nicht verwundern. Seit langem gab und gibt es dazu von uns klare linke Positionen und drängende Initiativen.

Nachdem ich zugesagt hatte, diese Tagung zu eröffnen, fanden sich gute Geister, die mir aufschrieben: wie es damals im Osten war, wie es im Westen war und wie es heute ist. Ich könnte das alles vortragen, würde damit aber vielleicht Eulinnen und Eulen nach Spree-Athen tragen. Trotzdem danke ich.

Als ich die guten Ideen las, fiel mir etwas Näherliegendes ein. Vor zweieinhalb Wochen war ich auf einer Hochzeits-Party. Ihr „Ja-Wort“ hatten sich zuvor Klaus und Oskar gegeben. Beide waren sich seit Jahren zugetan und beide heißen nun Lederer, Klaus und Oskar Lederer.

Die Laudatio auf dem Fest sprach übrigens Gregor Gysi. Für alle, die auf die Eröffnung des Buffets warteten, erschien die Rede sehr lang. Tatsächlich war sie ein spannender juristischer Schnell-Durchlauf zum Thema Schwulen und Lesben in Ost und West und nun im aktuellen Deutschland.

Versetzen wir uns kurz zurück: Ein Landesvorsitzender einer Regierungspartei heiratet einen Mann. Eine Vize-Präsidentin des Bundestages kommt gratulieren. Und nicht einmal die Boulevard-Zeitungen wagen es, negative Schlagzeilen zu setzen. Das war noch vor ein, zwei Jahrzehnten undenkbar.

Der „Christopher-Street-Day“ zählt heute in Berlin zu den großen Kultur-Ereignissen. Was allerdings weiterhin die Gefahr birgt, dass er selbstgefällig wird und seinen politischen Stachel verliert. Aber auch das werden sie auf dieser Tagung sicher kompetent diskutieren.

Und auch das dürfte ihre Erfahrungen spiegeln: „Multikulti“ ist schwieriger als der „Karneval der Kulturen“. Und das wahre Leben ist widersprüchlicher, als die schwul-lesbischen Feste am Nollendorf-Platz oder im Volkspark Friedrichshain. Was letztlich immer zählt, ist der ganz normale Alltag.

Und dazu gehören noch immer Schmähungen, auch Gewalt gegen Lesben und Schwule. Oder anders gesagt: Artikel 1 Grundgesetz - „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - erlebt noch immer und immer wieder Aussetzer. Das ist zwar verfassungswidrig, aber es ist Usus: im Alltag und per Gesetz.

Vorigen Freitag hatte ich als Vizepräsidentin des Bundestages die letzte Schicht zu leiten. Es war die vorletzte Sitzungswoche vor der Bundestagswahl. Die Kehraus-Phase ist angebrochen. Alles, was in den zurückliegenden vier Jahren nicht geklärt wurde, kommt nun auf die Tagesordnung.

Bei der Kehraus-Schicht hatte ich minutenlang Anträge zu Transsexuellen aufzurufen. Viele davon stammten aus dem Team von Barbara Höll. Dabei stellte ich mir kurz vor, ich würde gerade den Bayerischen Landtag leiten oder Pressesprecherin im Vatikan sein. Ich habe beides nicht vor.

Apropos Bayern und Vatikan: Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde in Baden-Württemberg ein Fragebogen für Migrantinnen und Migranten entwickelt. Er galt als Test für alle, die Deutsche werden wollen. Es war ein sehr merkwürdiger Fragebogen.

Demnach sollten es Muslima von Staats wegen schau finden, wenn ihr Sohn schwul ist. Und muslimische Männer sollten sich darüber freuen, wenn sie endlich eine Frau als Chefin haben. Ich habe mich gefragt: Was haben die katholischen Schwaben eigentlich gegen unseren Papst aus Bayern?

Denn Benedikt XVI. würde sich nie über eine Chefin freuen. Und eine lesbische Tochter darf er auch nicht haben, jedenfalls nicht offiziell. Das Ganze lief übrigens unter der Überschrift „Deutsche Leitkultur“. Ich lehne sie ab. Sie ist eine hohle Worthülse mit viel Platz für gefährlichen Sprengstoff.

Abschließend möchte ich Sie und uns an eine andere Episode erinnern. Die Fraktion DIE LINKE gibt es nun vier Jahre. Und die Partei DIE LINKE feierte dieser Tage gerade erst ihren zweiten Geburtstag. Das mag erklären, warum so manche Kinderkrankheiten noch nicht ausgestanden sind.

In der Phase der Parteigründung gab es auch neunmalkluge Ratgeber. Einer meinte, die neue Linke möge sich wieder auf die sozialen Nöte des deutschen Proletariats konzentrieren und das ganze unnötige Drumherum endlich lassen. Aus Sicht solcher Propheten würde diese Tagung zum Ballast gehören.

Ich hatte damals gesagt: Wer das meint, redet einer alten Rechten das Wort. Und schauen wir uns in einigen ost-europäischen Staaten um, wie dort mit Lesben und Schwulen umgegangen wird, mit Sinti und Roma, mit Jüdinnen und Juden. Menschenrechtlich ist das tiefes Mittelalter im 21. Jahrhundert!

DIE LINKE ist diesen Ratschlägen natürlich nicht gefolgt. Sie wird es auch nicht tun. Menschenrechte sind unteilbar und BürgerInnenrechte gelten für alle. Und wenn sie bei realen oder vermeintlichen Minderheiten verletzt werden, dann ist immer generell etwas faul im Staate. Das bleibt unser linker Ansatz.

Deshalb: Bei allen historischen Fortschritten für anders Lebende und anders Liebende, die ich angedeutet habe und die es hierzulande gibt, bleibt noch viel zu tun: de facto und de jure. Also wünsche ich Ihnen und unserer Tagung heute viel Erfolg. Wir brauchen ihn für alle. Er fällt nicht vom Himmel.
 

 

 

22.6.2009
www.petra-pau.de

 

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