Mehr Demokratie wagen

Symposium der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zum Reformationsjubiläum „Wie viel Demokratie verträgt der Staat?“,
Eröffnungsvortrag von Petra Pau, Bundestagsvizepräsidentin
Lutherstadt Wittenberg, 24. April 2008

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Die Einladung für diese Veranstaltung erhielt ich an einem Freitag. Das ist der Tag, an dem unser Büro-Team die nächsten Wochen plant. Wir saßen also in kleiner Runde und schnell entspann sich ein Gespräch rund um die Frage: Wie hielt es Martin Luther eigentlich mit der Demokratie? Und mit dem Staat? Die Antworten darauf waren höchst widersprüchlich.

Martin Luther half Gläubigen, sich vom Alleinvertretungsanspruch der päpstlichen Kurie zu emanzipieren. Das war eine demokratische Großtat. Zugleich sprach er aber der weltlichen Obrigkeit, den Fürsten, eine Allmacht zu, die selbst das Recht auf Töten einschloss. Das war natürlich alles andere als ein Akt der Befreiung, im Gegenteil.

Nach diesem Freitags-Gespräch tat ich, was heute üblich ist. Ich wählte mich ins Internet ein und gab bei Google die Stichworte ein: „Martin Luther“ und „Demokratie“. Die Suche war wenig ergiebig. Es gab zwar etliche Fundstellen. Aber die betrafen fast alle Martin Luther King und die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts.

Später widmeten wir uns noch einem anderen Gedankenspiel. Wir fragten uns: Wie würde es einem, wie Martin Luther, heute, also in der Bundesrepublik Deutschland anno 2008, ergehen? Dabei kamen wir zu interessanten Varianten. Sie sind diffiziler als die groben Gerätschaften, die Oppositionellen im Mittelalter gezeigt wurden. Aber es gibt sie noch immer.

Als Martin Luther noch Priester in Erfurt war, da hätte ihn die heutige Staatsmacht wahrscheinlich zum schwarzen Block gezählt und ob seiner Kapuze wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot belangt. Aber das gehört zu den kleineren Übeln. Vielleicht würde man auch zwei staatliche Augen zudrücken. Denn damals war Luther ja noch linientreu.

Später begehrte Martin Luther zu Wittenberg auf. Er forderte einen „Systemwechsel“ in der Kirche. Das wäre aus heutiger Sicht garantiert ein Fall für die so genannte Anti-Terror-Datei. Dort hätte sich Martin Luther wahrscheinlich in einem Verdachts-Ordner mit Thomas Münzer wieder gefunden. Ich glaube nicht, dass ihm diese Gleichbehandlung gefallen hätte.

Zu DDR-Zeiten galt Luther nach meiner Erinnerung übrigens als Sozial-Demokrat und Münzer als Revolutionär. Damit waren die Sympathie-Punkte zugeteilt. Nach der Wende wiederum gab es eine große Ausstellung über die gesamte deutsche Geschichte im gleichnamigen Berliner Museum. Da kam Thomas Münzer nicht einmal vor.

Aber zurück zu Martin Luther: Er fand Zuspruch, daheim und über Grenzen hinweg. Selbst Intellektuelle schlossen sich ihm an. Spätestens da hätte heute Generalbundesanwältin Monika Harms großen Eifer entwickelt und gegen Luther gemäß Paragraf 129a Strafgesetzbuch wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt.

Luther war für seine Obrigkeit ein "Hassprediger". Obendrein tarnte und versteckte er sich. Er hatte bei alledem Helfershelfer. Zudem wurde Luther gewalttätig, als ihm auf der Wartburg der Teufel erschien und er diesen mit einem Tintenfass erschlagen wollte. Kurzum: Martin Luther wäre heute ein klarer Fall für Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble.

1. Mein Demokratie-Verständnis umfasst mehr

Nun zum eigentlichen Thema. Als ich vor Monaten zusagte, heute zu sprechen, wurde mir als Frage angetragen: „Wie viel Demokratie braucht der Staat?“ Als ich später die schriftliche Einladung erhielt, las ich: „Wie viel Demokratie verträgt der Staat?“ Sie merken, da wurde ein Wörtchen verändert. Aus „braucht“ wurde „verträgt“. Das aber führt zu ganz anderen Antworten.

Vorweg noch eine zweite Anmerkung: Beide Fragen beziehen sich auf den Staat und damit auf die Politik im engeren Sinne. Mein Demokratie-Verständnis umfasst aber viel mehr. Zum Beispiel mehr Mitsprache und Mitbestimmung in der Wirtschaft oder an den Universitäten. Das wollte ich wenigstens einmal sagen, damit es nicht ganz hinten runter fällt.

Ich habe übrigens jüngst gelesen: In England gibt es eine Fußball-Mannschaft mit einem sehr aktiven Fan-Verein. Seine Mitglieder sind sogar berechtigt, mit Hilfe des Internets die Mannschafts-Aufstellung fürs nächste Spiel zu bestimmen. Angeblich sei der Fußball-Mannschaft diese seltene Fan-Demokratie sogar gut bekommen.
 

Nun zu meiner Antwort auf die zuerst gestellte Frage: „Wie viel Demokratie braucht der Staat?“ Meine Erfahrung sagt: Der Staat braucht für sich überhaupt keine Demokratie. Sie ist ihm zuweilen lästig und wo er kann, weicht er der Demokratie auch aus. Sie kennen vielleicht das Zitat: „Alles muss schön demokratisch aussehen, aber wir müssen alles fest in der Hand haben.“

Es ist von Walter Ulbricht. Für die Jüngeren: Walter Ulbricht war lange Zeit Vorsitzender der SED und des Staatsrates der DDR. Nun könnten Sie sagen: „typisch DDR!“ Ja! Das war so. Ich sage aber auch: typisch Staat. Ich will Ihnen das gerne an drei aktuellen Beispielen illustrieren. Alle drei haben mit dem Deutschen Bundestag zu tun. Ich spreche also aus eigener Erfahrung.

Beispiel 1: Ich war Mitglied im so genannten BND-Untersuchungs-Ausschuss. Da geht es geht um die Frage, ob auch die Bundesrepublik Deutschland - wie die USA - im Anti-Terror-Kampf seit 2001 Menschenrechte verletzt hat und wenn ja, wer dafür die politische Verantwortung trägt. Die Frage „ob“ beantworte ich übrigens nach meiner Kenntnis mit einem klaren Ja.

Maßgeblicher für das Thema heute ist: Immer, wenn es um das Agieren im Bundeskanzleramt geht, dem Zentrum des Staates, dann werden die Schotten dicht gemacht. Selbst Parlamentariern wird jegliche Einsicht verwehrt. „Der Kern der Regierungsarbeit“, wie es amtsdeutsch heißt, gilt als geheim. Dagegen gibt es aktuell eine Verfassungsklage der FDP, der Linken und der Grünen.

Beispiel 2: Es gibt weitere Bereiche der Politik, die demokratisch aussehen sollen, es aber mitnichten sind. Ich meine die parlamentarischen Gremien, die angeblich die Geheimdienste kontrollieren. Die Geheimdienste erhalten immer mehr Befugnisse. Und sie erhalten sie stets mit dem Verweis, sie würden ja demokratisch kontrolliert. Aber wie sieht das praktisch aus?

Die auserwählten Parlamentarier dieser Kontrollgremien werden zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet. Sie erhalten von der Regierung gefilterte Informationen zugeteilt. Und wenn ihnen dennoch etwas brisant erscheint, dann dürfen sie diese Brisanz mit ins Grab zu nehmen. Darüber sprechen - mit wem auch immer - ist verboten. Das wäre Geheimnisverrat und somit strafbar.

Um Missverständnissen vorzubeugen: In der Volkskammer der DDR gab es nicht ein mal ein Gremium, dass die Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit kontrollieren sollte. Und wer so etwas damals öffentlich gefordert hätte, wäre mit Sicherheit wegen Klassenverrats belangt worden - ohne parlamentarischen Untersuchungsausschuss danach.

Mein drittes Beispiel: Wer in oder über die USA fliegen will, muss vorab über 30 höchst persönliche Daten Preis geben. Das ist natürlich ein Einbruch in den Daten- und damit in den Persönlichkeitsschutz - ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz. Aber es ist Praxis. Und es findet eifrige Nachahmer bei deutschen Sicherheits-Politikern, zum Beispiel bei Ex-Innenminister Otto Schily.

Er wollte dasselbe für die Europäische Union durchsetzen. Er scheiterte damit aber am Votum des Bundestages. Dann passierte das, was häufig geschieht. Schily stampfte in Brüssel so lange auf, bis die EU-Kommission beschloss, dass auch in der EU Fluggastdaten gespeichert werden sollen. Er setzte also über EU-Bande das durch, was vordem demokratisch abgelehnt wurde.

Ich merke an: Zum EU-Recht gibt es einen Streit. Die einen sagen: EU-Recht bricht Landesrecht, ohne Wenn und Aber. Andere sagen: EU-Recht kann kein deutsches Recht brechen, wenn das EU-Recht nicht mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik vereinbar ist. Als demokratische Linke verteidige ich natürlich das Grundgesetz.
 
Noch eine Anmerkung: Unter den Kritikern der EU gibt es zwei Lager. Das eine will die Politik wieder re-nationalisieren. Das andere will die EU grundsätzlich demokratisieren. Ich gehöre zum zweiten Lager. Es gibt kein zurück zum abgeschotteten Nationalstaat. Wir brauchen vielmehr eine demokratisch verfasste und transparente EU.
 

2. Die BRD ist ein EU-Entwicklungsland

Die zweite gestellte Frage war: „Wie viel Demokratie verträgt der Staat?“ Ich will mich ihr mit einem - zugegeben - sehr mechanischem Gleichnis nähern. Sie kennen alle Temperatur-Regler, zum Beispiel im Auto. Schiebt man den Hebel nach links, dann wird es kalt. Schiebt man ihn nach rechts, dann wird es heiß. Die akzeptierte Wohlfühl-Temperatur liegt zumeist irgendwo dazwischen.

Nun stellen wir uns einen solchen Regler in der Demokratie-Frage vor. Das eine Extrem wäre die Oligarchie, also die Herrschaft einer Person oder einer elitären Gruppe über alle anderen. Das andere Extrem wäre die Anarchie, also eine für alle herrschaftsfreie Gesellschaft. Dazwischen liegt das, was gemeinhin als Demokratie gilt. Doch was ist die Wohlfühl-Demokratie? Und für wen?

Die jeweilige Form der Demokratie hängt natürlich von sehr verschiedenen Faktoren ab. Zum Beispiel vom Wahlrecht oder davon, ob es neben Wahlen auch direkte Mitbestimmung gibt. Oder davon, welche anderen Ämter maßgebliche Kompetenzen haben, ein Königshaus zum Beispiel oder ein Präsident. Allein in Europa finden sie von alledem mannigfaltige Varianten.

Sie merken also: Die Frage - „wie viel Demokratie verträgt der Staat?“ - kann ich so abstrakt nicht beantworten. Ich sage ihnen aber sehr konkret: Die Bundesrepublik Deutschland verträgt erheblich mehr Demokratie, als derzeit Usus ist. Und ich wiederhole gern: In Fragen direkter Demokratie ist die Bundesrepublik Deutschland sogar ein EU-Entwicklungsland.

Das ist so, weil die jeweils staatstragenden Parteien sich sperren. Was wiederum für meine provokante These spricht: Der Staat braucht keine Demokratie. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich heute - wie eh und je - ihre Mitsprache selbst erstreiten. Was wiederum eine höchst demokratische Angelegenheit wäre, eine Bürgerrechts-Bewegung im besten Sinne. Ich ermutige sie dazu.

Dass die Bundesrepublik Deutschland in Fragen direkter Demokratie ein Entwicklungsland ist, ist übrigens nicht nur ein Makel. Das kann auch gefährlich werden. Sie alle kennen die Debatten um Parteien- oder Politik-Verdrossenheit. Es gibt auch Anzeichen für Demokratie-Verdrossenheit.
 
Demokratie-Verdruss aber ist keine Erkältung, die nach einer Woche wieder verschwindet. Demokratie-Verdruss wirkt - um im Bild zu bleiben - eher wie AIDS. Er schwächt das gesellschaftliche Immunsystem. Und genau das ist ein Einfalls-Tor für rechtsextremistische Kameraden.
 
Meine These ist: Gegen Demokratie-Verdruss hilft nur mehr Demokratie, mehr direkte Demokratie. Dafür streite ich im Bundestag und deshalb bin ich auch Mitglied im bundesweiten Verein "Mehr Demokratie". Neue Mitglieder sind übrigens jederzeit herzlich willkommen.
 

Es gab in der jüngeren Geschichte zwei große Chancen, direkte Demokratie hierzulande auch auf Bundesebene einzuführen. Die erste wurde 1990 mit der deutsch-deutschen Vereinigung verspielt. Das Grundgesetz hätte durch eine gemeinsame, moderne Verfassung ersetzt werden können. Entwürfe dafür lagen vor. Aber CDU, CSU und die Mehrheit der SPD sagten: Nein!

Die zweite Chance gab es rund um die bereits erwähnte EU-Verfassung. Und wieder sperrten sich die Staatstragenden. Ausgerechnet der Grüne Außenminister Joseph Fischer meinte: „Ich lasse mir mein Werk nicht vom Volk zerreden.“ Und Kanzler Schröder (SPD) verstieg sich sogar zu der forschen Behauptung: „Das Grundgesetz verbietet Volksabstimmungen.“

Bitte lesen sie nach. In Artikel 20 Grundgesetz Absatz (2) heißt es wörtlich: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen (...) ausgeübt.“ Wie hieß es doch sinngemäß seinerzeit bei Kurt Tucholsky und seinem „leicht besoffenen Herrn“? „Die Wahlen können sie gleich mitnehmen, die Abstimmungen bekommen wir später!“

Es gab 1949 sicher gute und zurückliegende Gründe, direkte Demokratie nur unter Vorbehalt ins Grundgesetz zu schreiben. Aber das ist fast 60 Jahre her. Und auch das sei gesagt: Ich kenne viele Bedenken, allemal aus den Reihen der Unions-Parteien, die vermeintlich gegen mehr direkte Demokratie sprechen. Ich kenne aber keinen einzigen Grund, der mich wirklich überzeugt.

3. Mehr Demokratie ist vielfältiger

Wenn ich über mehr Demokratie spreche, dann meine ich natürlich nicht nur Volksabstimmungen und Volksentscheide auch auf Bundesebene. Die möglichen Formen sind vielfältiger. Ein paar positive Beispiele will ich kurz streifen. So wurde im Bundestag das Petitionsrecht erweitert und das -verfahren modernisiert. Das stärkt die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern.

Das Informationsfreiheitsgesetz ist ebenso ein Beispiel. Demnach haben Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich das Recht, Einsicht in Verwaltungs-Vorgänge zu nehmen, die früher verschlossen waren. Sie sind nicht mehr Bittsteller, sondern umgekehrt, die Behörden haben eine Bringpflicht. Zudem ist mehr Transparenz immer eine wichtige Voraussetzung für mehr Demokratie.

„Bürgerhaushalte“ sind ein weiteres Stichwort. In Berliner Bezirken, aber auch anderswo, gibt es damit bereits gute Erfahrungen. Praktisch heißt das, dass Bürgerinnen und Bürger direkt über die Verwendung von Haushaltsmitteln mitentscheiden. Nicht über den gesamten Haushalt und auch nicht abschließend. Aber ihr Engagement zählt und ihr politisches Votum hat Gewicht.

Aus meiner grundsätzlichen Haltung für mehr Demokratie ergibt sich umgekehrt aber auch meine Skepsis bei Vorschlägen, die weniger Demokratie mit sich brächten. So wird immer wieder Mal eine Verlängerung der Legislatur des Bundestages von vier auf fünf Jahre angemahnt. Das hieße: Die Bürgerinnen und Bürger wählen nicht mehr alle vier, sondern nur noch alle fünf Jahre.

Ebenso lehne ich ein Mehrheits-Wahlrecht ab. Es wurde nach der Hessen-Wahl erneut ins Spiel gebracht. Ich habe mal hochgerechnet, wie nach dem Mehrheitswahlrecht der aktuelle Bundestag aussehen würde: Es gäbe ca. 300 Unions-Abgeordnete und ca. 300 SPD-Abgeordnete plus Gregor Gysi, Gesine Lötzsch und ich von der Linken sowie Christian Ströbele von den Grünen.

Die beiden letzten Beispiele offenbaren übrigens eine Sicht, die ich nicht teile. Demokratie, in diesem Falle Wahlen, werden vorwiegend aus Regierungssicht definiert und nicht aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger. Denn die Begründungen lauten: Das Mehrheitswahlrecht erleichtere die Regierungs-Bildung und eine erweiterte Legislatur verlängere die effektive Regierungszeit.

Die vermeintliche politische Patt-Situation nach den Landtags-Wahlen in Hessen ist übrigens mitnichten die Schuld der Wählerinnen und Wähler. Die jeweiligen Partei-Strategen hatten sich vorher eine Wunschwelt gezimmert und sich darin gegeneinander verbarrikadiert: insbesondere die CDU, aber auch die SPD und die FDP.
 
Seitdem DIE LINKE auch in West-Parlamenten Fuß fasst, heißt das große Alarmwort plötzlich „Fünf-Parteien-System“. Ich komme aus Berlin und dort gibt es seit 1990 ein Fünf-Parteien-System, bestenfalls unterbrochen, wenn die FDP die 5-Prozent-Klausel reißt. Es gibt also keinen Grund, am Wahlrecht herum zu basteln.
 

Noch ein Gedanke zum Thema Wahlrecht: Ex-Bundespräsident Roman Herzog brachte sich dieser Tage in die Schlagzeilen. Er warnte vor einer drohenden „Rentner-Demokratie“. Aktueller Anlass für ihn war, dass die Renten dieses Jahr über Gebühr um 1,1 Prozent steigen sollen. Was preisbereinigt übrigens ein Renten-Minus von rund 2 Prozent ist. Also nichts, was die Welt erschüttert.

Aber Herzogs Sorge ist: Die Älteren werden immer mehr, damit wachse ihr politisches Gewicht. Und wohl deshalb haben sich die Union und die SPD zu einem wirtschaftlich gefährlichen Geschenk an diese Klientel durchgerungen. Was „am Ende“, so Herzog, dazu führen könne, dass „die Älteren die Jüngeren ausplündern“. Wäre ich gehässig, so würde ich von Altersrassismus sprechen.

Aber Polemik beiseite: Wer sich wirklich um die Jüngeren und ihre Zukunft sorgt, der sollte die Jugend endlich ernst nehmen und das Wahlalter herabsetzen. Ein erster Schritt könnte bei 16 Jahren liegen. In einigen Ländern gibt es das bereits. Und zwar als unmittelbares Wahlrecht und nicht vermittelt über die Eltern. Auch das gehört dazu, wenn ich von mehr Demokratie spreche.

4. Droht eine Demokratie-Katastrophe?

Anfangs hatte ich ihnen das Bild von einem Demokratie-Schieber empfohlen. Es war übrigens Seiten verkehrt. Denn es suggerierte: Schiebt man den Regler nach links, dann gibt es weniger Demokratie und schiebt man den Regler nach Rechts, dann gibt es mehr Demokratie. Die Praxis in der Bundesrepublik Deutschland belegt genau das Gegenteil. Je rechter, desto kälter und undemokratischer.

Dazu gebe ich gern noch eine Berliner Anekdote zum Besten. Berlin war im Demokratie-Vergleich aller Bundesländer lange Schlusslicht. Das änderte sich mit Rot-Rot. SPD und Linkspartei brachten das Land Berlin auf Platz 1, unterstützt von den Grünen und der FDP, gegen die Stimmen der Berliner CDU. Danach gab es einen Ruck.
 
Kaum waren Volksbegehren möglich, schon sammelte die CDU auf der Straße medienträchtig Unterschriften. Sie wollte verhindern, dass eine Straße nach Rudi Dutschke benannt wird. Allen voran der CDU-Landesvorsitzende Friedbert Pflüger. Dumm nur: Er war damals noch Hannoveraner und damit in Berlin gar nicht abstimmungsberechtigt.
 

„Wie viel Demokratie verträgt der Staat?“ Das war die Frage. Wobei: Das Ganze ist natürlich keine Ermessenfrage. Das Grundgesetz definiert die Bundesrepublik Deutschland eindeutig als Sozialstaat und als demokratischen Rechtsstaat. Wer soziale Gerechtigkeit will, Demokratie und Bürgerrechte, muss daher immer auch Verfassungsschützer sein.

Damit meine ich nicht die gleichnamigen Ämter von Staats wegen. Das sind zuweilen gut bezahlte Spaßvögel. Ihre Beobachtung von Oskar Lafontaine wurde eingestellt, meine Beobachtung nicht. In den Berichten über meine Gefährlichkeit wurde unter anderem vermerkt: „Am 7. April 2006 wurde Petra Pau zur Vize-Präsidentin des Bundestages gewählt.“

Sie sehen also: Der staatliche Verfassungsschutz arbeitet präzise, er registriert alles, ihm entgeht nichts, jedenfalls nichts Unwesentliches. Den wirklichen Schutz ihrer Verfassung aber sollten souveräne Bürgerinnen und Bürger niemals anderen überlassen. Das ist meine Lehre aus meiner zu Recht gescheiterten DDR und aus nunmehr 18 Jahren BRD-Erfahrung.

Der Titel "Bürgerrechtler" wird übrigens politisch sehr ambivalent benutzt. Er wird verliehen, solange er sich gegen die politische Praxis in der DDR richtet. Sobald er sich aber gegen die politische Praxis in der BRD wendet, wird er systematisch ausgeblendet. Einen klassischen Beleg für diese, meine These, gab es im Dezember 2001.
 
Damals veröffentlichte ein gutes Dutzend DDR-Bürgerrechtler einen Appell. Er war überschrieben: „Wir haben es satt!“ Viele von ihnen waren inzwischen mit Verdienst- und anderen bundesdeutschen Orden dekoriert worden. Sie ließen sich ehren, aber sie waren nicht käuflich. Sie waren zu DDR-Zeiten Bürgerrechtler und sie blieben es auch später.
 
Ihr Appell war nicht an die Parteien und nicht an die Regierenden gerichtet, sondern an die Bürgerinnen und Bürger (Zitat) „an Euch, Bürgerinnen und Bürger wie wir.“ Kein öffentlich-rechtlicher Sender sendete ihn, auch kein privater und keine große Zeitung verbreitete diese Stellungnahme. Sie war offenbar zu bürgerrechtlich.
 
In diesem Appell hieß es unter anderem: „Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist offensichtlich gestört. Das war 1989 so. Und das gilt heute wieder. Wir fühlen uns in wachsendem Maße ohnmächtig gegenüber wirtschaftlichen, militärischen und politischen Strukturen, die für Machtgewinn und Profit unsere Interessen (...) einfach ignorieren.“
 
Andere so genannte Bürgerrechtler aus DDR-Zeiten hatten da längst ihren Frieden mit völkerrechtswidrigen Kriegs-Einsätzen der Bundeswehr gemacht und Geheimdiensten noch mehr Vollmachten erteilt. „Bürgerrechtler“ ist also kein Titel, sondern persönliches Engagement und Courage. Zivilgesellschaft ist dafür das Schlüsselwort, nicht Staat.
 

Im September 2007 demonstrierten 18.000 Bürgerinnen und Bürger in Berlin, vorwiegend junge Leute aus der ganzen Bundesrepublik. Sie verwahrten sich gegen die ausufernde Überwachung und gegen den zunehmenden Demokratie-Abbau. Es war die größte Bürgerrechts-Demonstration in deutschen Landen seit 18 Jahren. Sie demonstrierten: „Wir sind an einem Scheide-Punkt!“

Und wir sind es tatsächlich. Die drohende Klima-Katastrophe gelangt mehr und mehr ins Bewusstsein der Menschheit. Aber die drohende Demokratie-Katastrophe ist es noch längst nicht, auch nicht hierzulande. Dabei widerspricht der Alltag den politischen Sonntagsreden und den zuweilen klugen Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes.

In den letzten zehn Jahren hat das Bundesverfassungsgericht die jeweiligen Regierungen elf Mal in die Schranken verwiesen. "Karlsruhe" hat dabei stets zugunsten von Bürgerrechten und Demokratie geurteilt, weil Gesetze gegen Bürgerrechte und Demokratie erlassen wurden. Wieder ein Beleg für meine These: Kein Staat braucht Demokratie!

Ich sprach dramatisch von einer drohenden Demokratie-Katastrophe. Deshalb will ich das abschließend an zwei Beispielen illustrieren. In den 1980er Jahren gab es in der BRD-alt Proteste gegen eine allgemeine Volkszählung. Der Staat wollte seine Bürgerinnen und Bürger zählen und ihr Leben statistisch erfassen. Dagegen regte sich seinerzeit zunehmender Widerstand.

Der Streit endete vor dem Bundesverfassungsgericht. Das urteilte damals sinngemäß: „Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr wissen oder nicht mehr wissen können, wer was über sie weiß, sind als Menschen nicht mehr souverän. Wer als Mensch nicht mehr souverän ist, kann als Bürger kein Souverän sein. Eine Demokratie ohne Souveräne aber kann es nicht geben.“

Inzwischen sind wir 25 Jahre weiter. Noch nie war das technische Überwachungs-Potential so groß, wie heute. Und die Überwachungs-Begehren wachsen und wachsen - von Staats wegen und von Privat. Auf dem Spiel steht bei alledem letztlich die Demokratie als Gesellschafts-Modell. Das ist die Dimension, um die es aktuell geht.

Mein zweites Beispiel: Es gibt eine politische Schule, die immer mehr Gesellschaftliches und immer mehr Verantwortung an den Markt und an Privat delegiert. Ich spreche vom Neoliberalismus. Er führt zu sozialen Verwerfungen. Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. Die Mittelschicht schwindet. All das gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Eine Politik aber, die sich selbst entmachtet, entmachtet letztlich auch die Demokratie. Denn wenn nichts mehr zu entscheiden bleibt, dann ist es auch egal, ob dieses Nichts oligarchisch, demokratisch oder anarchisch entschieden wird. Das fängt klein an, etwa, wenn immer mehr Kommunen überschuldet sind und die örtlichen Volksvertreter damit quasi handlungsunfähig werden.

Das wird gefährlich, wenn selbst die Bundespolitik nur noch darauf verweisen kann, dass sie nicht mehr zuständig sei. Und das wird dramatisch, wenn die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, ihr Schicksal werde im kapitalen Nirvana entschieden, ohne Rücksicht auf ihre Verluste. Dieses Katastrophen-Szenario ist nicht gebannt. Es bleibt eine demokratische Herausforderung.

5. Zwei Denkzeichen

Abschließend: Demokratie klingt grundsätzlich positiv. Genau deshalb will ich noch zwei Denkzeichen setzen. Das erste: Demokratie wird gern mit Volks-Herrschaft übersetzt. Dabei sind weder der Begriff „Volk“, noch der Begriff „Herrschaft“ positiv besetzt. So haben z. B. zu allen Zeiten die Herrschenden bestimmt, wer überhaupt Volk sein darf. Das ist noch heute so.

Wir sehen das beim deutschen Staatsbürgerschaftsrecht. Das wiederum schlägt bis ins Wahlrecht durch. Noch immer können nicht alle, die in der Bundsrepublik Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben, hier auch gleichberechtigt mitbestimmen. Von anderen Diskriminierungen will ich jetzt gar nicht reden. Mein theoretisches Denkzeichen hat also einen Praxisbezug.

Mein zweites Denkzeichen ist eine Hausaufgabe. Schließlich haben wir das Jahr der Mathematik. Und diese hat schon vor langem das „Arrowsche Paradoxon“ bestätigt. Es besagt sinngemäß: Sobald sich mehrere Akteure mit unterschiedlichen Intentionen nach demokratischen Regeln einigen, kommt hinten nie eine Allianz der Mehrheit mit der Vernunft heraus.

So desillusionierend kann Mathematik sein. Trotzdem bleibe ich dabei: Die Demokratie ist von allen bekannten Varianten die beste Gesellschaftsform. Aber: Demokratie ist vielfältig und sie ist vielfältig gefährdet. Daher mein Schluss-Satz: Die Demokratie braucht einen positiven Schub - ich plädiere für eine Demokratisierung der Demokratie.
 

 

 

24.4.2008
www.petra-pau.de

 

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