„Zuwanderung und Integration“ sind ein Welt- und Zukunftsthema

Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau zur Eröffnung des 5. Kolloquiums Paris-Berlin „Integration und Zuwanderung“
Potsdam, 6. Oktober 2006

Ich freue mich, Sie begrüßen zu dürfen. Und das in einer Stadt, die reich an Geschichte ist. Es ist eine sehr wechselvolle Geschichte, die mit dem Namen Potsdam verbunden ist. Zu den schwärzeren, weil braunen Kapiteln, gehört der „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933. Es war eine unheilvolle Inszenierung Hitlers und der Nationalsozialisten, nach deren Machtergreifung.

In dieser Stadt wurde nach dem Ende des II. Weltkrieges und nach der Befreiung Europas vom Faschismus 1945 auch das „Potsdamer Abkommen“ beschlossen. An dieser Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 im Schloss Cecilienhof waren die USA, die UdSSR, Großbritannien und Frankreich beteiligt. Und in der Luft lag das Atom-Waffen-Zeitalter.

Ich will noch an ein drittes historisches Datum erinnern: den 29. Oktober 1685. Damals erließ der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg das „Potsdamer Toleranz-Edikt“. Damit bot er den Hugenotten, die damals in Frankreich wegen ihrer Religion verfolgt wurden, eine neue Heimat und umfangreiche Privilegien an.

Der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maiziere, und der aktuelle Chef des Bundeskanzleramtes, Thomas de Maiziere, sind Nachfahren jener Franzosen, die seinerzeit rund um Potsdam Zuflucht suchten und Zuspruch fanden. Ich erinnere gelegentlich daran, wenn die aktuelle Debatte über eine vermeintliche deutsche Leitkultur allzu nationale oder kuriose Wellen schlägt.

In Baden-Württemberg wurde vor Jahresfrist zum Beispiel ein amtlicher Fragebogen für Migrantinnen bzw. Migranten entworfen, die deutsche Staatsbürger werden wollen. Demnach sollen es muslimische Mütter gut finden, wenn ihr Sohn schwul ist. Und muslimische Männer sollen es prima finden, wenn sie endlich eine Frau als Vorgesetzte bekommen.

Seither frage ich mich: Was haben meine Landsleute aus Schwaben gegen den Papst aus Bayern? Denn Benedikt XVI. würde nie eine Frau über sich als Chefin dulden und über eine lesbische Tochter oder einen schwulen Sohn darf sich Joseph Ratzinger auch nicht freuen.

Die Kontroverse über eine tatsächliche oder vermeintliche deutsche Leitkultur, die für Migrantinnen und Migranten bindend sein soll, geht übrigens quer durch den Bundestag, selbst durchs Präsidium. Der von mir hochgeschätzte Kollege und Präsident des Bundestages, Herr Lammert, hat erst gestern wieder für eine deutsche Leitkultur plädiert. Ich wiederum werde ihm heute und auch morgen widersprechen.

Mehr Sorge bereitet mir allerdings der wachsende Zuspruch für Rechtsextremisten, für Nationalisten, für Antisemiten, für alte und neue Nazis. Wir erleben es in Deutschland und wir wissen zugleich: Das ist ein Europäisches Problem und das ist eine ernsthafte Bedrohung - für die Demokratie, für die EU, für Leib und Leben.

Mit Potsdam ist übrigens noch viel mehr Geschichte verbunden. Zum Beispiel Russische und Holländische. Sollten Sie die Muße haben, dann werden sie hier viele historische Zeugnisse finden. Auch die berühmt-berüchtigte Glienicker Brücke. Auf ihr wurden in den Zeiten des Kalten Krieges unter anderem Kundschafter-Ost gegen Agenten-West ausgetauscht. Sie war ein Symbol der Teilung Deutschlands und Europas und verbindet heute Potsdam mit Berlin.

Aber die drei erstgenannten historischen Daten, „Potsdamer Toleranz-Edikt“, „Tag von Potsdam“ und „Potsdamer Abkommen“, lagen mir besonders am Herzen. Gerade, weil das diesjährige Thema ihres Kolloquiums „Zuwanderung und Integration“ heißt.

Zuwanderung und Integration sind ein drängendes Thema. Es ist ein deutsches Thema, es ist ein französisches Thema, ein spanisches, ein italienisches, ein europäisches, ein afrikanisches, ein asiatisches, ein amerikanisches. Es ist ein Welt- und Zukunftsthema. Und es ist kein einfaches. Aber es ist immer ein menschliches Thema. Jedenfalls ist das mein Ausgangspunkt.

Es gibt andere Sichten. Zum Beispiel: Was bringen und was nehmen „uns“ Migranten? Was nützen und was schaden sie? Schmarotzen sie nur oder sind sie schon todbringend? Schlafen sie noch in unseren sozialen Hängematten oder bomben sie schon gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung? Ihr Thema „Zuwanderung und Integration“ ist also aufgeladen und vermint. Umso mehr wünsche ich Ihnen Erfolg.

Wir haben in Berlin - ich bin Berlinerin - zwei aktuelle Fälle, die für bundesweite Schlagzeilen sorgen. Der eine spielt im ehemaligen Ost-Berlin, der zweite im ehemaligen West-Berlin. Beide haben etwas mit Zuwanderung, Migration und Integration zu tun. Und beide zeigen mir, wie unsicher wir alle sind, nicht nur Politikerinnen und Politiker.

Im Ostteil der Stadt, konkret auf einer Brache in Pankow-Heinersdorf, will eine muslimische Gemeinde eine Moschee bauen. Die Gemeinde gibt es in Berlin seit 1924. Gegen den Moschee-Bau regt sich Widerstand, angeführt durch den örtlichen Pfarrer und flankiert durch die rechtsextremistische und verfassungsfeindliche NPD.

Die Bürgerinnen und Bürger in Pankow-Heinersdorf haben schlicht Vorbehalte und Angst. Und die haben sie nicht von ungefähr. Tagtäglich, spätestens seit dem 11-09-2001, wird ihnen suggeriert, Muslime sind Extremisten, sie sind Terroristen und Attentäter. Das ist zwar grundfalsch, aber das allgemeine Medienbild vermittelt genau das.

Im Westteil der Stadt wurde eine Opern-Aufführung abgesetzt. Es ging um Mozarts „Idomeneo“. Die Inszenierung präsentiert zum Finale die geköpften Häupter von Neptun, Jesus, Buddha und Mohammed. Ich vermute zwar, dass Wolfgang Amadeus Mozart im Grab rotiert. Aber über Geschmack will ich nicht streiten. Darum geht es nicht.

Zur Disposition stehen Werte, wie die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst. Man darf sie nicht zur Disposition stellen. Das ist der Vorwurf an die Intendantin der Deutschen Oper, weil sie die Aufführung abgesetzt hat. Ich frage dennoch: Wie viel mehr Freiheits- und Bürgerrechte wurden seit dem 11. 09. grundsätzlich in Frage gestellt. Ich finde: zu viele.

Um auf den Streit der Kulturen und Religionen zurückzukommen: Zu meiner Schulbildung gehörte Gotthold-Ephraim Lessing und seine Ring-Parabel in „Nathan der Weise“. Und wer nach den tiefen Wurzeln moderner Bürger- und Menschenrechte sucht, der findet sie auch in den Religionen: Im Christentum, im Judentum, auch im Islam.

Ich begrüße Sie als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und mithin im Namen aller Fraktionen des Bundestages. Das Kolloquium „Paris - Berlin“ ist partei- und länderübergreifend. Es hat eine langjährige Vorgeschichte und es findet zunehmend Zuspruch. Auch diesmal. Und so kann ich freudig auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus zehn weiteren EU-Ländern willkommen heißen.

Ich will Ihnen abschließend noch drei kleine Geschichten erzählen, die mir beim Thema „Zuwanderung und Integration“ einfielen. Die erste spielte 1990. Die ARD strahlte damals einen BBC-Film aus. Er hieß „Der Marsch“, keine große Kunst, aber mit einer wahren Vision:

Die zunehmende Armut in Afrika bricht auf, ins Reich der Reichen und fordert Gerechtigkeit. Das Reich der Reichen, die Festung Europa, wehrt sich, mit Abschottung und Waffen: Reich gegen Arm, Übermacht gegen Elend. Ein Horror-Szenario. Damals im Film, heute erlebbar.

Die zweite Geschichte fand 1993 statt, in Berlin: „Welt-Klima-Konferenz“. Schon damals schien klar und erwiesen, dass wir allesamt auf eine Klima-Katastrophe zusteuern. Inzwischen ist die Gewissheit gewisser. Sieben kleine Insel-Staaten waren seinerzeit in Opposition zu den USA, zur EU und zum Rest der Welt. Sie drohen geflutet zu werden, wenn die Pole schmelzen. Ihr klima-bedingter Untergang ist absehbar.

Die dritte Geschichte fiel mir rund um die Tsunamie-Katastrophe 2004/2005 ein. Wir haben gelernt, machtvolle Flugzeugträger in alle Teile der Welt zu schicken, um ökonomische Vorteile zu sichern. Wir haben es bisher nicht vermocht, humanistische Flugzeugträger zu bauen und dorthin zu schicken, wo menschliche Hilfe dringend gebraucht würde.

Auch das gehört für mich zum Thema „Migration und Integration“. Und viel mehr. Natürlich. Sie haben Ihr eigenes Programm und ich wünsche Ihnen kontroverse und zugleich konstruktive Debatten. Der deutsch-französische Dialog ist dabei unglaublich wichtig. Das zeigt die Nachkriegs-Geschichte und das lässt die Zukunft hoffen, hoffentlich.
 

 

 

6.10.2006
www.petra-pau.de

 

Übersicht
Bundestag

 

 

Lesbares

 

Seitenanfang

 

Startseite