Die Flut überraschte, Hartz IV war gewollt

PDS im Bundestag - heute von Petra Pau
Beitrag in „Disput“, Januar 2005

„Grüne Mitte“ heißt die Genossenschaft, in der ich seit langem wohne, DDR-Plattenbau, teilsaniert. In den 80er Jahren wurden die Wohnungen bezogen. Zuweilen kennt man sich noch, aber es gibt auch viele Neumieter. Die einstige HO-Kaufhalle, der spätere Supermarkt, ist weg. Er ging Pleite, die Kaufkraft im Kiez sinkt, und pompöse Konsum-Tempel locken ins Umfeld. Zu Fuß einkaufen war gestern. Nun wurden auch noch Bus-Linien gekappt. Laub fiel, und viele frösteln. Zum Beispiel Frau Opel. Sie wohnt fast so lange hier, wie ich. Sie suchte eine Arbeit zum Leben, bis sie des Lebens müde wurde. Wir halfen ihr aus der Krise. Frau Opels neues Jahr begann auf der Arbeitsagentur. Sie rang um das karge Arbeitslosengeld II, mehrfach. Seit Wochen kommen ähnlich Betroffene in meine Sprechstunden, viele. Sie suchen Rat, Hoffnung und Würde.

Just in diesen Jahreswechsel platzierte Stefan Hilsberg, dereinst DDR-Bürgerrechtler und SDP-Gründer, inzwischen Chef der Landesgruppe Ost der SPD-Bundestagsfraktion, seine Weisheit. Die Ost-West-Angleichung der Lebensverhältnisse sei eine Illusion, meinte er. Und im „Osten käme man mit 331 Euro ALG II gut hin, auch wenn die Betroffenen das als ungerecht empfinden“. Sein Parteifreund, Manfred Stolpe, war geschickter. Der Ost-West-Unterschied beim ALG II sei nicht gerechtfertigt, befand er. Stimmt. Aber warum sagte er das ausgerechnet zu Weihnachten? Hatte der Ex-Konsistorialrat eine göttliche Erscheinung? Gesine Lötzsch und ich, wir haben wieder und wieder auf dieses Unrecht verwiesen. Aber bei allen entscheidenden Hartz IV-Debatten im Bundestag hatte Manfred Stolpe - er ist immerhin der für den Osten zuständige Bundesminister - brav geschwiegen.

Der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Ringstorff (SPD), unterstützte die Forderung, die seit langem von der PDS vertreten wird: Die Ost-West-Differenz beim ALG II muss nach oben aufgelöst werden. Sein ehemaliger Amtsbruder aus Sachsen, Kurt Biedenkopf (CDU), findet das falsch. Er soll inzwischen als Ombudsmann Hartz-IV-Konflikte schlichten. Aber er lobte: „Die Differenz ist eine behutsame Annäherung an die Unterschiede der realen Kaufkraft und deshalb angemessen.“ Ein Doppelfehler. Denn die Differenz der Kaufkraft ist für die Bemessung des ALG II völlig uninteressant. Maßgeblich sind die Lebenshaltungskosten. Die unterscheiden sich tatsächlich, aber nicht zwischen Ost und West. Diese Mauer existiert nur noch in den Köpfen namhafter Politiker, von CDU/CSU über die SPD bis zu den Grünen.

Zurück zum Jahreswechsel. Er wurde durch zwei große Themen beherrscht: Hartz IV in Deutschland und die Flut in Asien. Eines Abends fragte ich mich: Was von beiden ist schlimmer? Selbstverständlich die Naturkatastrophe. Die Bilder zeigen es. Das menschliche Leid ist unermesslich, die Folgen für die betroffenen Länder sind es ebenso. Das Schicksal traf vor allem Menschen, die unter Urlaubs-Sonnen im sozialen Schatten hausen. Also kurze Frage, klare Antwort? Nein! Die Flut überraschte, Hartz IV war gewollt. Trotz aller Frühwarnsysteme, die beim Tsunami fehlten. Die ganze Agenda 2010 wird sogar als Lösung verkauft, obwohl sie Werte, wie Gerechtigkeit und Solidarität, mutwillig preisgibt.

Erfreulich indes ist eine andere Erfahrung: Ja, er lebt noch, der christliche und sozialistische Ethos: „Einer trage des anderen Last.“ Die großherzigen Spenden Hunderttausender für die Flutopfer zeigen es. Ich kenne sogar Hartz-Betroffene, denen fremdes Leid wichtiger war, als eigene Nöte. Ihre kleinen Spenden wiegen schwer und vor allem: sie sind ehrlich. Geradezu niederträchtig empfand ich dagegen die Schecks der ALDI-Brüder. Je 250.000 Euro, wurde im ZDF verkündet. Das sind gerade mal die Zinsen, die beide Milliardäre täglich bei jenen Banken einheimsen, die an Hartz IV und an der Armut in der Dritten Welt verdienen.

Zugleich überbieten sich die Großen unter den Staaten. Jeder will der Bessere in der Not sein. Das könnte ein guter Wettlauf sein. Jedenfalls besser, als der Run auf Öl und militärische Einflussgebiete. Aber ist er wirklich so uneigennützig, wie es beim Gottesdienst klingt? Die Flut hatte ihr Unheil noch nicht mal offenbart, da stellte die USA-Führung erneut die UNO und deren Kompetenz in Frage. Die Vereinigten Staaten von Amerika, und nur sie, seien zur Führung berufen, hieß es.

Im Gegenzug mehrten sich EU-Stimmen. Sie fordern eigene, militärische Eingreiftruppen, zur besonderen Verwendung, weltweit. Meine absurde Eingangsfrage bohrt also weiter. Natürlich habe ich, hat die „PDS im Bundestag“ sofort für die Flutopfer gespendet. Ich finde es auch richtig, dass die Bundesregierung 500 Millionen Euro für den Wiederaufbau in Asien zugesagt hat. Aber warum hat Rot-Grün zugleich den Spitzensteuersatz um drei Prozent gesenkt und damit den ALDIs & Co. Milliarden geschenkt?

Zuweilen schreibe ich „Aktuelle Notizen“. Ich stelle sie ins Internet, auf meine web-Seite, www.petrapau.de, zur Information und zur Diskussion an. Ende November 2004 war wieder eine fällig. Sie war sogar überfällig, denn viele Begegnungen über Land zeigten mir: Das Problem ist fast durchweg unbekannt. Es war kein Medien-Thema. Meine „AN“ hatte ich mit „14 Tage - vier Meldungen - ein Thema“ überschrieben. Hier ein Auszug:

21.11.2004, Brüssel: Die Verteidigungsminister der EU-Staaten einigen sich auf die Bildung von 13 mobilen Kampftruppen. Jede soll 1.500 Mann umfassen und binnen zehn Tagen weltweit eingreifen können. Die ersten der so genannten Battle Groups sollen 2005 einsatzfähig sein. Reuters schrieb: „Die Kampftruppen sind Teil eines umfassenden militärischen Konzepts der EU, wonach bis 2010 insgesamt 60.000 Soldaten bereitstehen sollen.“

29.11.2004, Deutschland: Die Skandal-Liste wächst. Nach einer Studie des Familienministeriums wird die große Mehrheit junger Soldaten in der Bundeswehr schikaniert, unterdrückt, schwer beleidigt oder gedemütigt - die Liste der Übergriffe ist lang. Lothar Liebsch, Sprecher des „Darmstädter Signals“ (www.darmstaedter-signal.de), meinte: „Wenn man sagt, wir verteidigen unsere Freiheit am Hindukusch, dann darf man sich nicht wundern, wenn in die Armee auch ein neuer Geist einzieht.“

2.12.2004, Berlin: Der Haushaltsausschuss des Bundestages gibt auf einer Sondersitzung umfangreiche Mittel zum Bau weiterer Waffensysteme frei. Dazu gehören rund 675 Millionen Euro für das Projekt Eurofighter. Insgesamt sind 236 dieser Kampfflugzeuge mit einem Finanzvolumen von 14 Milliarden Euro geplant.

Weitere 350 Millionen Euro bewilligte der Hauptausschuss für die Vorserie des Schützenpanzers Puma. Dieses Projekt umfasst 410 Fahrzeuge und soll letztlich drei Milliarden Euro kosten. „Neues Deutschland“ berichtete: „Lediglich PDS-Vertreterin Gesine Lötzsch sprach sich gegen das Projekt aus.“

3.12.2004, Berlin: Der Bundestag beschließt ein „Parlaments-Beteiligungs-Gesetz“. Mit ihm sollen Auslandseinsätze der Bundeswehr beschleunigt werden. Mussten diese bisher mit der Mehrheit des Bundestages bewilligt werden, so reicht künftig ein Beschluss der Bundesregierung. Dem Bundestag bleibt ein Rückholrecht. Dazu sagte ich im Bundestag: „Schon der Name grenzt an Etiketten-Schwindel. >Entsendegesetz< trifft das Anliegen besser. Blitz-Militär im Äußeren und Light-Demokratie im Inneren, das ist des Pudels Kern.“

Zum erhellenden Vergleich merke ich nachträglich an: Anfang Januar 2005 hat die Bundesregierung 500 Millionen Euro zur Linderung der Flutkatastrophe in Asien bewilligt. Sie wurden in Aussicht gestellt. Im Dezember 2004 hatte der Haushaltsausschuss des Bundestages 17 Milliarden Euro für zwei Rüstungsprojekte beschlossen. Das ist ein militärischer Punktsieg von 34:1 gegen die Entwicklungshilfe, ein technischer K.o. Umso unseliger war die Kritik aufstrebender CDU-Politiker an den beschlossenen 500 Millionen Euro Hilfe. In jeder Bundestagsdebatte fordert die CDU/CSU mehr Mittel für die Bundeswehr.

Aber auch andere versuchen, den Punkt aufs i zu setzen. Zum Beispiel der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Wansleben. Er forderte am 8. Januar, just als Frau Opel ohne Hoffnung auf Arbeit um ihr karges ALG II bangte: Ein-Euro-Jobs sollten auch in der Wirtschaft flächendeckend eingesetzt werden. Ich habe dazu umgehend erklärt: Das ist Hartz V, genauer Hartz-total.

Nach den Vorstellungen des DIHK-Chefs sollen ALG-II-Empfänger für einen Euro auch in der regulären Wirtschaft arbeiten. Im Gegenzug könnte die Agentur für Arbeit einen auszuhandelnden Betrag von den profitierenden Unternehmen erhalten. Damit aber würde das gesamte Tarifsystem gekündigt. Billigjobs ohne Sicherung und Leiharbeit unter Tarif würden zur dominierenden Normalität. Das wäre die Folge und das ist Konzept. Kein neues übrigens. CSU und CDU, Stoiber und Biedenkopf, hatten 1997 einen „Zukunfts-Bericht der Freistaaten Bayern und Sachsen“ vorgelegt. Die Lektüre lohnt.

Denn 90 Prozent der CDU/CSU-Vorhaben finden sich in der rot-grünen Agenda 2010 wieder. Stoiber und Biedenkopf gingen damals nicht nur weiter, sie waren auch ehrlicher, brutaler. Die Kernbotschaft des Zukunftsberichtes hieß nämlich: Deutschland könne wohlständig und konkurrenzfähig bleiben, vorausgesetzt, ein Drittel der Gesellschaft wird verarmt, bewusst und konsequent. Damals, also 1997, regte sich Protest. Auch die Kirchen mischten sich seinerzeit mit einem eigenen „Sozialwort“ kritisch ein. Ich hatte es auf dem „Kirchentag 2004“ erneut zitiert, zur Freude vieler Teilnehmer, zur Schande ihrer Fürsten.

Dieser Tage hörte ich auf einem Gottesdienst wieder das aufbauende Wort: „Einer trage des anderen Last.“ Es galt den Opfern der Flutkatastrophe, es bat um Spenden, es war an jene gerichtet, denen es besser geht. „Besser“ ist relativ, aber oft auch absolut. Der Tsunami, die verheerende Flutwelle, hat mit Urgewalt 170.000 Menschen in den Tod gerissen und Millionen um schlichte Hoffnungen gebracht. Wir sehen es am Bildschirm, und wir können ahnen: Es läuft etwas ganz grundsätzlich schief. Die Last wird fast untragbar.

„Einer trage des anderen Last“, hieß übrigens ein guter DEFA-Film. Es war ein kritischer, ein gesellschaftskritischer, ein DDR-kritischer Film. Auf zahlreichen Montags-Demos der letzten Monate habe ich an seine Botschaft erinnert, und ich wurde verstanden, selbst in Bayern, natürlich. Denn Hartz IV ist kein Ost-West-Konflikt, und der Tsunami ist mehr als ein Naturereignis.

Ein Entwicklungshelfer störte neulich das Medienbild der uneigennützigen, weltweiten Hilfe für die Flutopfer. „Tsunami ist immer“, sagte er, „in Asien, in Afrika, in Lateinamerika. Tag für Tag sterben weltweit Hunderttausende Kinder, an Hunger, an Durst, an simplen Krankheiten - auch ohne Flutwelle und fast immer ohne Kameras“.

0,7 Prozent des Brutto-Sozialproduktes, so hatten sich die Staatschefs der reichen Industrieländer Anfang der 90er Jahre geeinigt, müssen in die weltweite Entwicklungshilfe fließen. Sie flossen nie, auch jetzt nicht.
 

 

 

31.1.2005
www.petra-pau.de

 

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