Türkei-Beitritt ernsthaft behandeln

Bundestag, 28. Oktober 2004, „Türkei / EU-Kandidat“
Rede von Petra Pau

1. 

Wir reden heute über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei. Wenn überhaupt, dann steht er real irgendwann zwischen 2015 und 2020 auf der Tagesordnung, also in 15 Jahren.
In 15 Jahren kann viel passieren. Wer's nicht glaubt, schaue 15 Jahre zurück. Damals entfaltete die so genannte Wende ihre Wirkung. Das war kaum vorhersehbar und damit auch schwer kalkulierbar.

2. 

Ein Beitritt der Türkei aber wäre kalkulierbar und er wäre gestaltbar. Deshalb verstehe ich auch die künstliche Aufregung nicht, die von der CDU/CSU derzeit verbreitet wird.
Ich bin erleichtert, dass sie wenigstens die Unterschriften-Aktionen gegen einen Türkei-Beitritt abgeblasen haben. Aber wir wissen auch alle: Die CDU gehört zu den Rückfalltätern wenn es darum geht, gegen Ausländer Stimmung zu machen. Sie stehen daher unter Bewährung.

3. 

Hinzu kommt: Wer A sagt muss auch B sagen. Man kann nicht Volksabstimmungen in Deutschland ablehnen und zugleich eine Volksabstimmung über den EU-Beitritt der Türkei fordern.
Die PDS im Bundestag fordert seit langem „mehr Demokratie“ und wir sind sehr gespannt, ob Rot-Grün seine jüngsten Ankündigungen diesmal ernst meint.

4. 

Nun ist es ja politisch legitim und üblich, wenn die einen für einen EU-Beitritt der Türkei plädieren - jedenfalls unter bestimmten Bedingungen - und wenn andere - ebenfalls begründet - dagegen sind.
Nur eines geht nicht: Man kann nicht alle Vierteljahre die Argumente wechseln, mit denen man dagegen ist. Genau das aber machen CDU und CSU. Mal ist die Türkei nicht genug europäisch, mal nicht christlich, mal sind die türkischen Werte falsch, mal ihre Geschichte.

5. 

Und so verheddert sich CDU/CSU immer wieder in Widersprüche. Erinnern wir uns: Als die Bundesrepublik Deutschland schnell und billig Arbeitskräfte brauchte, da konnten „die Türken“ gar nicht schnell genug hier sein. Als aber später die Ostdeutschen dazu kamen, wurden die hier lebenden Kurden und Türken ins dritte Glied geschickt.
Wenn es um die Nato geht, dann ist die deutsch-türkische Wertegemeinschaft so groß und inniglich, dass es egal ist, nach welcher Konfession die jeweiligen Militär-Seelsorger predigen. Wenn es aber um die EU geht, dann scheinen die kulturellen Differenzen unüberwindbar.

6. 

Diese Doppelzüngigkeit der CDU/CSU schafft nicht nur außenpolitische Verstimmungen. Sie belastet auch das Miteinander hierzulande.
Sie signalisiert Millionen türkischen Mitbürgern - mit oder ohne deutschen Pass: ihr gehört eigentlich nicht dazu. Und genau das findet bei Jenen Beifall, die Deutschland ohnehin über allen und alles wähnen - schon wieder oder immer noch.

7. 

Natürlich gibt es handfeste Gründe, mit Skepsis in die Türkei zu schauen. Die Missachtung von Bürgerrechten gehört nach wie vor dazu, ebenso die vielfache Geringschätzung von Frauenrechten und ungelöste Konflikte mit dem kurdischen Volk. Rot-Grün muss sich hüten, das klein zu reden.
Aber man darf auch nicht mit zwei Maßstäben wägen. Wenn es hierzulande um Bürger- oder Frauenrechte geht, dann sieht man die CDU und CSU selten vorantraben, auch in der EU nicht - im Gegenteil.

8. 

Es war übrigens ein CDU-Kanzler, der vor nunmehr 40 Jahren der Türkei einen möglichen EU-Beitritt zugesagt hatte. Auch damals lag Istanbul am Bosporus.
Wenn die Opposition zur Rechten nun sagt, „nicht mit uns“, dann wird sie wortbrüchig und dann schlägt sie - ohne Not - eine historische Tür gen Osten zu. Das will die PDS im Bundestag nicht.

9. 

Bleibt die "privilegierte Partnerschaft": Die CDU bietet sie der Türkei als Ersatz für eine EU-Mitgliedschaft an. Seit sie damit hausieren geht, stelle ich mir allerdings eine simple Frage: Für welches Land haben CDU und CSU eine unprivilegierte Partnerschaft in Petto, für wen eine privilegierte Unpartnerschaft oder gar eine unprivilegierte Unpartnerschaft?
Außerdem würde ich gern einmal hören, wie eine privilegierte Partnerschaft praktisch aussehen soll. Zumal: Wenn das Modell wirklich so gut ist, wie sie meinen, Frau Merkel, warum probieren Sie es dann nicht einfach Mal aus - mit Herrn Stoiber und ihrer Schwesterpartei CSU?
 

[download] Stenographischer Bericht, pdf-Datei

 

 

28.10.2004
www.petra-pau.de

 

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