Disput, PDS-Mitgliedermagazin Mai 2003

Besser jetzt, als zu spät

Über die „guten Jungs“ von nebenan, eine Besenkammer und einen Osterspaziergang

Von Petra Pau

„Auch die Nazis waren wieder da“, fasste ein Reporter seinen Bericht über den 1. Mai in Berlin zusammen. Konkret meinte er den Aufmarsch der NPD in Charlottenburg, grundsätzlich aber irrte er. Die Kameraden waren nie weg, sie sind das ganze Jahr unter uns, und ich begegnete ihnen schon, als ich am Morgen meine 1.-Mai-Tour durch Berlin und Potsdam im Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf begann.

Kurz davor war ich in Thüringen. „Wie können wir den NPD-Aufmarsch im Ort verhindern?“ Die Frage führte rund hundert Interessierte in Neuhaus am Rennweg zusammen. Der Schriftsteller Landolf Scherzer moderierte, und ich diskutierte mit Vertretern der Kirche und anderer Parteien auf dem Podium. Einen kleinen Teil des Publikums, den jüngeren, dürfte anderes interessiert haben. Ich hatte ihn schnell ausgemacht. Sie trugen Thorhammer, Lonsdale-T-Shirt und andere Symbole, die sie als bekennende Rechtsextreme auswiesen. Sofern man ihre Zeichensprache kennt. Manche Neuhäuser indes wunderten sich an diesem Abend. Sie wollten den angekündigten Einmarsch „fremder“ Nazis verhindern, dabei waren sie schon unter ihnen, die einheimischen, die „guten Jungs“ von nebenan.

Immer wieder stoße ich auf schiere Unkenntnis oder Gutgläubigkeit, wenn ich unterwegs bin, um über die Gefahren des Rechtsextremismus und über Alltagsstrategien für Toleranz und Demokratie zu diskutieren. Monatlich frage ich die Bundesregierung nach ihren Erkenntnissen über rechtsextreme Straftaten. Damit setze ich eine Serie fort, die lange vor meiner Bundestagszeit durch die PDS begonnen wurde. Die Ergebnisse sind erhellend und erschreckend zugleich. Im Schnitt werden monatlich etwa 500 rechtsextreme oder fremdenfeindlich motivierte Straftaten registriert. Täglich gibt es mindestens eine Gewalttat, die zur Anzeige kommt. Die reale Zahl und das Leid der Opfer sind unermesslich höher. Über die Zahl der Todesopfer in den letzten zehn Jahren wird gestritten. Sie liegt auf jeden Fall bei 100 und mehr.

Der Bundestag wird vor allem dann wahrgenommen, wenn Sitzungswoche ist. Ob Fraktions- oder Plenarsitzungen, die Kamerateams lauern, um nichts zu versäumen, was nach Zwietracht riecht oder anderweitig spannend sein könnte. Die Gruppensitzung der PDS im Bundestag findet eher im kleinen Kreise statt, unbemerkt und in sehr überschaubarer Runde. Wir gehen die anstehenden Themen durch, wir teilen die ohnehin knappe und daher besonders wertvolle Redezeit auf, wir organisieren die gemeinsame Arbeit. Die Formulierung „Gruppensitzung“ ist natürlich eine Spitze, denn Gesine und mir wurde kein Gruppenstatus zuerkannt. Anderenfalls hätten wir deutlich bessere Bedingungen als jetzt, zumindest angemessene. Als wir nach der Bundestagwahl unsere Zimmer „Unter den Linden“ zugewiesen bekamen, sprach Gesine Lötzsch - natürlich etwas übertrieben - von der „Besenkammer“. Neulich war ich im Jakob-Kaiser-Haus, dort, wo die PDS-Fraktion weiland ihr Domizil hatte. Meine Überraschung war groß. Etliche Büros waren frei, man hatte noch nicht mal die Namensschilder meiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen abgenommen. Warum also mussten wir in die ferne „Besenkammer“? Ob in Berlin, Bayern oder Bremen, immer wieder kommt es vor, dass ich auf der Straße von mir unbekannten Leuten angesprochen werde: „Ich würde ihre Partei nicht wählen, Frau Pau. Aber ich bin Demokrat, und was die da mit Ihnen im Bundestag machen, das geht doch nicht!“

Unser Problem sind nicht nur fehlende Tische oder verweigerte Telefone. Vor einigen Monaten sagte ich auf dem Parteitag der Brandenburger PDS: „Ob wir zwei Abgeordnete als PDS im Bundestag bundespolitisch agieren können, das hängt nicht allein von uns ab, sondern vor allem auch von der Partei namens PDS.“ Das klang vielleicht etwas kryptisch oder zu naheliegend. Deshalb reiche ich eine Illustration nach.

Im Bundestag wurde über die Lage in den neuen Bundesländern diskutiert, eine Generaldebatte, wie es heißt. Grundlage war ein rund 200-seitiger Bericht der Regierung. Ein urständiges Thema der PDS, könnte man meinen. Jedenfalls gaben wir das Material zwei Wochen vor der parlamentarischen Aussprache dem Parteivorstand. Wir wollten uns abstimmen und erbaten Hilfe. Schließlich gedachten wir in fünf Minuten Redezeit nicht irgendwas, sondern möglichst genau das zu sagen, was der PDS wichtig ist. Noch dazu zur besten Fernsehzeit. Die Vorstandshilfe kam, aus dem Fax-Gerät, ein Tag vor ultimo. Es waren zwei Seiten - Kopien aus dem PDS-Wahlkampfmaterial, vom Sommer 2002.

Die Regierungserklärung zur „Agenda 2010“ kam wichtig und wuchtig daher. „Mut zum Frieden - Mut zu Veränderungen“, war sie überschrieben. Von ihr, hieß es im Voraus, hänge das Schicksal des Kanzlers ab. Das mochte so sein. Die Fraktionen des Bundestages hatten das offizielle Manuskript vorab erhalten. Ihre Stäbe arbeiteten fieberhaft an medienträchtigen Antworten ihrer Spitzen-Redner. Für die PDS im Bundestag galt: live ist live.

Bundeskanzler Schröder versuchte einen uralten Dreh. Wer, wie er, gegen den Irak-Krieg sei, müsse auch, wie er, für die Stärkung Deutschlands und Europas sein. Ich habe ihm umgehend geantwortet: „Die Agenda 2010 zielt nicht auf mehr Gerechtigkeit, mehr Stabilität und Solidarität im Inneren, im Gegenteil: Sie entlasten mit dieser Politik die Vermögenden, Sie belasten die Bedürftigen und Sie entsorgen die Solidarsysteme. Deshalb mein zweiter Satz: Eine solche Innenpolitik taugt nicht als Leitbild für eine Außenpolitik, die auf Recht und Gerechtigkeit, auf Frieden und Entwicklung zielt. Die PDS im Bundestag sagt also Ja zu Ihrem Nein zum Irakkrieg. Aber wir sagen zugleich Nein zu Ihrem Ja zum Sozialabbau.“

Der Bundesgeschäftsführer der PDS plante zur selben Zeit einen besonderen Coup. Wir wurden nicht informiert, aber wir ahnten es, denn wir sollten für die PDS-Spitze auf der Zuschauertribüne des Bundestages Plätze besorgen, natürlich erste Reihe. Die waren allerdings nicht mehr zu haben. Im „Hohen Haus“ wartet niemand auf Sonderwünsche der PDS. Später wurde mir von Mitarbeitern im Karl-Liebknecht-Haus schmunzelnd ein Transparent gezeigt. Es sollte - prominent und medienträchtig - entrollt werden, wenn der Kanzler spricht. Das knallrote Spruchband war wetterfest, es wog schwer, es war zusammengelegt reichlich korpulent, es hätte in Länge und Breite von einem Dutzend Leuten gehalten werden müssen, und was es gekostet hat, weiß ich nicht. Für eine Aktion im Bundestag war es jedenfalls komplett ungeeignet. Da erinnerte ich mich an einen Antrag, den die PDS Kreuzberg vor Jahren an sich und den Berliner Landesparteitag gestellt hatte: „Gerade Linke müssen arbeiten wie die Profis!“

Die Zahl der E-Mails, die mich täglich erreichen, wächst und wächst. Sie ist nicht mehr beherrschbar. Der Tag hat 24 Stunden, mehr nicht. Das gilt auch für die „zweieinhalb“ guten Geister, die mir die Bundestags- und Wahlkreisarbeit ermöglichen, und für Tanju Tügel, der mir als Mitarbeiter des Parteivorstandes hilft, den täglichen Postberg abzutragen.

Aber es gibt auch guten Willen, der auf falschen Voraussetzungen fußt. „Sag' gefälligst Bescheid, Genossin Pau, wenn wir dir helfen sollen. Es kann doch nicht sein, dass die CDU-Merkel eine halbe Stunde spricht und dir nach drei Minuten die Argumente ausgehen!“ Der Genosse sprach streng. Er hatte nicht bemerkt, dass wir laut Geschäftsordnung in wenigen Minuten das unterbringen müssen, was die großen Parteien lang und zäh wiederkäuen können.

Gleichwohl schnellt nach jeder Rede im Bundestag der Mail-Eingang hoch. Die Zahl der Phoenix-Gucker wächst. Die Live-Übertragungen aus dem Bundestag sind - neben dem Internet - das Medium, über das PDS-Positionen überhaupt noch authentisch vernehmbar sind. Wir geben uns alle Mühe (www.gesine-loetzsch.de, www.petrapau.de).

In Bremen wird gewählt. Die Bremer Genossinnen und Genossen haben signalisiert, was sie von der Vorstandskrise halten: Nichts. Klar, denn unter „Wahlkampfhilfe“ kann man das Theater beim besten Willen nicht verbuchen. Es hagelt Negativ-Schlagzeilen und Abgesänge auf die PDS. Ich fahre dennoch an die Weser und werbe für eine linke, sozialistische Reformpolitik. Hinzu kommt ein persönlicher Wunsch. Ich möchte Uche Nduka treffen. Er stammt aus Nigeria, lebt, studiert und lehrt seit Jahren in der Hanse-Stadt. Obendrein ist er preisgekrönt, hierzulande, als Literat. Nun gilt er als überflüssig, er soll abgeschoben werden, in ein Bürgerkriegsland. Als mich besorgte Stimmen von der bremischen Uni erreichten, schrieb ich an den zuständigen Senator für Inneres, Sport und Kultur, Kuno Böse: „Wir kennen uns aus ›Berliner Zeiten‹. Sie waren damals Staatssekretär für Inneres mit CDU-Buch, ich war Mitglied des Abgeordnetenhauses mit PDS-Mandat. Diese Konstellation barg natürlich Widersprüche, Spannungen und Kontroversen. Denn gerade in der ›engeren‹ Innenpolitik, nicht zuletzt beim Ausländer- und Staatsbürgerschaftsrecht, trennen uns politische Welten. Gerade deshalb appelliere ich an Sie als Kultursenator: Lassen Sie Vernunft walten, setzen Sie sich für Uche Nduka ein, werben Sie für ihn.“ Bislang erhielt ich nicht einmal einen amtlichen Eingangsvermerk.

Seit Jahren fahre ich Ostersonntag gen Norden, so auch diesmal. Der Kampf um die Zukunft der Freien Heide dauert an. Früher wurde das Areal von der Sowjetarmee als Bombenabwurfplatz genutzt. Nach der Wende keimte Hoffnung für zivile Zeiten für das „Bombodrom“ auf. Aber die Begehrlichkeiten der Bundeswehr und damit wohl auch der NATO sind ungebrochen. Deshalb trafen sich wieder mehrere Tausend Widerspenstige in der Prignitz-Ruppiner Heide zum Osterspaziergang. Dabei waren auch die PDS-Politiker Wolfgang Methling, Ralf Christoffers und Wolfgang Gehrcke.

Ich hatte als Mitglied des Bundestages schon vordem eine offizielle Frage an Bundesverteidigungsminister Peter Struck gestellt. Darin erinnerte ich ihn an eine Presseerklärung, die der SPD-Politiker 1992 verbreiten ließ. Darin hieß es: „Wenn die Bundeswehr diesen Platz tatsächlich weiternutzen wird, so wird sie damit ... gegen den von ihr selbst aufgestellten Grundsatz verstoßen, prinzipiell keine sowjetischen Übungsflächen zur Weiternutzung übernehmen zu wollen, und damit wird sie in den neuen Ländern den Rest Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung verlieren.“

Das war damals. Jetzt antwortete mir der zuständige Staatssekretär: Juristisch sei „der Bund zur militärischen Fortnutzung grundsätzlich berechtigt.“ Außerdem würden alle Beteiligten und Betroffenen in Kürze über die Planungen zur künftigen Nutzung des Platzes unterrichtet.

Damit schließt sich der Kreis zu einem weiteren Widerspruch, den wir zur Regierungserklärung des Kanzlers angemeldet haben. Es geht um das künftige Verhältnis Deutschlands und Europas zu den USA. CDU und CSU setzten mit den USA auf Stärke. SPD und Grüne plädieren ohne oder gegen die USA für Stärke. Aber beide Lager bauen auf Stärke, auch auf militärische.

Das ist der zweite Kardinalfehler in der aktuellen Debatte. Zukunft ist weder durch Aufrüstung, noch über Sozialabbau zu erreichen. Wirklicher „Mut zum Frieden und für Veränderungen“ verlangt etwas anderes. Die Bundesrepublik muss sich von der USA-Politik emanzipieren, entwicklungs-politisch, im weiten und im naheliegenden Sinn. Das Feld ist weit und steinig. Aber irgendwann muss die Saat gelegt werden. Besser jetzt, als zu spät.
 

 

 

21.5.2003
www.petra-pau.de

 

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