Schein-Moral im Bundestag

Bundestag, 30. Januar 2003, TOP 4 „Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum optimalen Fördern und Fordern in Vermittlungsagenturen“
Rede von Petra Pau

1.
Es geht darum, Erwerbsarbeit zu fördern und nicht Arbeitslosigkeit zu finanzieren. So heißt es im vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates. Wer will das nicht?

Berlins Sozial-Senatorin Heidi Knake-Werner (PDS) hat diese Woche die ersten drei regionalen Job-Center vorgestellt.

Sie sollen helfen, Sozialhilfeempfänger schneller in Arbeit zu vermitteln. Und das ist gut so, um ein geflügeltes Berliner Wort aufzugreifen.

2.
Auch das gehört zum Problem: Sozialhilfe sind Kosten, die in den Kommunen anfallen. Wir alle wissen nicht erst seit der aktuellen Stellungnahme des Städte- und Gemeindetages, dass über vielen Dörfern und Städten der Pleitegeier kreist.

Jede Sozialhilfeempfängerin, die in Erwerbsarbeit kommt, ist daher auch für die gebeutelten Stadt- und Gemeindekassen eine willkommene Entlastung.

3.
Die Frage ist nur, welche Besserung bietet der vorliegende Gesetzentwurf?

Der Bundesrat will, dass die Zwänge zur Arbeitssuche, die damit verbundene Zumutungen und die angedrohten Sanktionen noch weiter erhöht werden, als sie ohnehin sind.

Das ist der Kern des vorliegenden Gesetzes. Es geht von erwerbslosen Sozialhilfeempfängern aus, denen der Sinn nach Arbeit abhanden gekommen ist. Nicht zuletzt, weil das „bestehende und Arbeitslosenhilfesystem“ zum Faulenzen und Schmarotzen ermutige.

4.
Auch wenn es ihnen irgendwann aus den Ohren quillt, sage ich Ihnen: Wer so argumentiert, hat vom Osten keine Ahnung.

Das ist der erste Grund, warum wir mit Nein stimmen.

5.
Sozialhilfeempfänger sollen verschärft nachweisen, dass sie sich hinreichend um einen Job bemühen.

Ich weiß, es ist polemisch. Aber wie wäre es mit einer Beweispflicht für Regierungen, Banken und Unternehmen, dass sie sich ausreichend um Arbeitsplätze mühen?

Und wie wäre es mit entsprechenden Sanktionen, falls sie den dafür nötigen Eifer nicht aufbringen?

6.
Damit das nicht nur polemisch bleibt, will ich es am Beispiel illustrieren: Am Beginn der Arbeitslosigkeit und vor der Sozialhilfe-„Karriere“ steht allzu häufig die schlichte Tatsache, dass Jugendliche nicht einmal einen Ausbildungsplatz bekommen. Weil es an Angeboten mangelt.

Deshalb fordert die PDS seit Jahren eine Umlagefinanzierung. Mit ihr würden Betriebe begünstigt, die ausbilden, und Unternehmen zur Kasse gezwungen, die sich verweigern.

Sie lehnen eine Umlagefinanzierung ab und beschwören statt dessen das freiwillige Engagement der Unternehmer.
Das beschreibt die Scheinmoral der Debatte. Zwang bei Betroffenen, Freibriefe für Zuständige. Das ist der zweite Grund, warum wir das vorliegende Gesetz ablehnen.

7.
Ein dritter: Nahezu alles, was CDU/CSU hier via Bundesrat anstreben, ist längst geregelt.
SPD und Grüne haben es gerade noch mal bestätigt, nicht ohne Stolz.

8.
Der vierte Grund, warum wir Nein sagen, ist ganz simpel. „Sozialhilfe“ gilt als Mindeststandard für ein menschenwürdiges Leben. Wer sie zur Disposition stellt, spielt mit der Würde des Menschen. Das tun sie.

Wir können gerne darüber reden, wie sich Leute am Sozialstaat bereichern. Ich kenne auch entsprechende Beispiele. Zuweilen sind auch Sozialhilfeempfänger dabei. Den großen Reibach aber machen andere.

9.
Deshalb mein Angebot. Sobald der Bundesrat hier ein Gesetz zur Wiedereinführung der Vermögenssteuer vorlegt, wird die PDS zustimmen. Soziale Gerechtigkeit hat bekanntlich immer auch etwas mit Steuergerechtigkeit zu tun.

Im Berliner Abgeordnetenhaus haben SPD, PDS und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam für die Vermögenssteuer gestimmt. Warum nicht im dafür zuständigen Bundestag? Es wäre ein flotter Dreier, dem wir endlich mal zustimmen könnten.
 

[download] Stenographischer Bericht, rtf-Datei

 

 

30.1.2003
www.petra-pau.de

 

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